Kognitive Flexibilität: Wie das Gehirn neue Regeln lernt
Spezielle Neuronen-Klasse im präfontalen Kortex ermöglicht flexibles Verhalten
Ein internationales Team von Neurowissenschaftler:innen hat eine spezielle Klasse von Neuronen im präfrontalen Kortex entdeckt, die flexibles Verhalten ermöglichen und bei Fehlfunktionen zu Erkrankungen wie Schizophrenie und bipolaren Störungen beitragen können. Diese sog. weitreichenden hemmenden Verbindungen synchronisieren Gamma-Oszillationen über den linken und rechten präfrontalen Kortex und ermöglichen es dem Gehirn, sein Verhalten im richtigen Moment zu ändern. Die Studie könnte zu neuen Behandlungs-Ansätzen bei psychiatrischen Erkrankungen führen, so die Autor:innen.
Die Fähigkeit, sich an veränderte Umstände anzupassen und flexibel zu bleiben, ist etwas, das täglich von unserem Gehirn täglich geübt werden muss. Ob man aufgrund einer Baustelle eine alternative Route zur Arbeit nehmen oder sich mit einer neuen Streaming-Anwendung vertraut machen muss, um seine Lieblingsserie wiederzufinden – das Anpassen an neue Gegebenheiten ist eine grundlegende Kompetenz, die in vielen Lebensbereichen eine Rolle spielt.
Um solche Anpassungen durchzuführen, verändert das Gehirn seine Aktivitätsmuster innerhalb der Region des präfrontalen Kortex, die für kognitive Funktionen wie Aufmerksamkeit, Planung und Entscheidungsfindung von elementarer Bedeutung ist. Doch welche spezifischen Schaltkreise dem präfrontalen Kortex „mitteilen“, dass er seine Aktivitätsmuster aktualisieren soll, um das Verhalten zu ändern, war bisher unbekannt.
Ein internationales Team von Neurowissenschaftler:innen um Vikas Sohal, University of California und Kathleen K.A. Cho, Institut du Cerveau (ICM), Institut national de la santé et de la recherche médicale (Inserm), Frankreich, haben untersucht, wie das Gehirn Informationen verarbeitet und was passiert, wenn diese Funktion beeinträchtigt ist. In einer neu veröffentlichten Forschungsarbeit haben die Forschenden eine spezielle Klasse von Neuronen im präfrontalen Kortex entdeckt, die ein flexibles Verhalten ermöglichen und bei Fehlfunktionen zu Zuständen wie Schizophrenie und bipolaren Störungen führen können.
Hemmende Neuronen und das Erlernen neuer Regeln
Hemmende Neuronen dämpfen die Aktivität anderer Neuronen im Gehirn. In der Wissenschaft ist man bisher davon ausgegangen, dass sie ihre elektrischen und chemischen Outputs nur an nahe gelegene Neuronen senden. Die Forschenden fanden jetzt jedoch eine bestimmte Klasse von hemmenden Neuronen im präfrontalen Kortex, die auch über große Entfernungen mit Neuronen in der gegenüberliegenden Gehirnhälfte kommunizieren.
Die Fragestellung war, ob diese weitreichenden inhibitorischen Verbindungen an der Koordination von Änderungen in Aktivitätsmustern im linken und rechten präfrontalen Kortex beteiligt sind. Auf diese Weise liefern sie möglicherweise die entscheidenden Signale, die dem Gehirn helfen, sein Verhalten im richtigen Moment zu ändern.
Um die Funktion dieser Verbindungen zu testen, beobachteten die Forschenden Mäuse, die eine Aufgabe ausführten, bei der sie eine Regel lernen mussten, um eine Belohnung zu erhalten. Später mussten sie sich an die neue Regel anpassen, um die Belohnung weiterhin zu erhalten. Bei dieser Aufgabe mussten die Mäuse in Schalen graben, um dort versteckte Nahrung zu finden. Zunächst wies der Geruch von Knoblauch oder das Vorhandensein von Sand in einer Schüssel auf die Position des versteckten Essens hin. Der mit der Belohnung verbundene spezifische Hinweis wurde danach verändert und zwang die Mäuse, eine neue Regel zu lernen.
Es stellte sich heraus, dass das Abschalten der langreichweitigen hemmenden Verbindungen zwischen dem linken und rechten präfrontalen Kortex dazu führte, dass die Mäuse an einer Regel festhielten und sie daran hinderte, eine neue Regel zu lernen.
Gehirnwellen und flexibles Verhalten
Darüber hinaus machten die Wissenschaftler:innen überraschende Entdeckungen dazu, in welcher Weise diese weitreichend hemmenden Verbindungen Verhaltensflexibilität schaffen. Insbesondere synchronisieren sie eine Reihe von Gehirnwellen, die als Gamma-Oszillationen bezeichnet werden, über die beiden Hemisphären hinweg. Gamma-Oszillationen sind rhythmische Schwankungen der Gehirnaktivität, die etwa 40 Mal pro Sekunde auftreten.
Diese Schwankungen können während vieler kognitiver Funktionen erkannt werden, z. B., wenn man eine Aufgabe ausführt, bei der Informationen im Gedächtnis behalten oder unterschiedliche Bewegungen ausgeführt werden müssen.
Obwohl Wissenschaftler:innen das Vorhandensein von Gamma-Oszillationen seit vielen Jahrzehnten beobachten, ist ihre Funktion umstritten. Viele Forschende glauben, dass die Synchronisation dieser rhythmischen Schwankungen über verschiedene Gehirnregionen überhaupt keinen sinnvollen Zweck erfüllt. Andere Spekulationen gehen davon aus, dass die Synchronisation über verschiedene Gehirnregionen die Kommunikation zwischen diesen Regionen verbessert.
In der neuen Studie fanden die Wissenschaftler:innen jedoch eine völlig andere potenzielle Rolle für die Gamma-Synchronität: Wenn langreichweitige inhibitorische Verbindungen Gamma-Oszillationen über den linken und rechten präfrontalen Kortex synchronisieren, scheinen sie auch die Kommunikation zwischen ihnen zu steuern.
Bestimmte Neuronen können Fernverbindungen über beide Hemisphären des Gehirns herstellen
Wenn Mäuse also lernen, eine zuvor festgelegte Regel zu missachten, die nicht mehr zu einer Belohnung führt, synchronisieren diese Verbindungen Gamma-Oszillationen und scheinen die eine Hemisphäre davon abzuhalten, unnötige Aktivitätsmuster in der anderen aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten: Weitreichende hemmende Verbindungen scheinen zu verhindern, dass der Input von einer Hemisphäre der anderen „im Weg steht“, wenn diese versucht, etwas Neues zu lernen.
Beispielsweise kann der linke präfrontale Kortex den rechten präfrontalen Kortex an den üblichen Weg zur Arbeit „erinnern“. Aber wenn weitreichende hemmende Verbindungen diese beiden Bereiche synchronisieren, scheinen sie auch diese Erinnerungen auszuschalten und neue Muster der Gehirnaktivität zu ermöglichen, die dem neuen Arbeitsweg entsprechen.
Schließlich lösen diese weitreichenden hemmenden Verbindungen auch langanhaltende Wirkungen aus. Das einmalige Abschalten dieser Verbindungen führte in der Studie dazu, dass die Mäuse einige Tage später Schwierigkeiten hatten, neue Regeln zu lernen. Umgekehrt konnte die rhythmische Stimulation dieser Verbindungen zur künstlichen Synchronisierung von Gamma-Oszillationen diese Defizite umkehren und das normale Lernen wiederherstellen.
Kognitive Flexibilität und Schizophrenie
Langreichweitige inhibitorische Verbindungen spielen eine wichtige Rolle bei der kognitiven Flexibilität. Die Unfähigkeit, zuvor erlernte Regeln angemessen zu aktualisieren, ist eine typische Form der kognitiven Beeinträchtigung bei psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie und bipolarer Störung.
Die Forschenden haben auch Mängel in der Gamma-Synchronisation und Anomalien in einer Klasse von präfrontalen inhibitorischen Neuronen bei Menschen mit Schizophrenie festgestellt. In diesem Zusammenhang legt die Studie nahe, dass Behandlungen, die auf diese langreichweitigen hemmenden Verbindungen abzielen, dazu beitragen können, die Kognition bei Menschen mit Schizophrenie zu verbessern, indem sie Gamma-Oszillationen synchronisieren.
Viele Details darüber, wie diese Verbindungen die Schaltkreise des Gehirns beeinflussen, sind noch unbekannt. Zum Beispiel weiß man noch nicht, welche Zellen im präfrontalen Cortex Input von diesen weitreichend hemmenden Verbindungen erhalten und ihre Aktivitätsmuster ändern, um neue Regeln zu lernen. Es ist auch noch nicht klar, ob es spezifische molekulare Signalwege gibt, die die lang anhaltenden Veränderungen der neuralen Aktivität hervorrufen.
Die Beantwortung dieser Fragen könnte aufzeigen, wie das Gehirn flexibel zwischen alten und neuen Informationen umschaltet und so möglicherweise zu neuen Behandlungsansätzen bei Schizophrenie und andere psychiatrische Erkrankungen führen.
Quellen:
https://neurosciencenews.com/cognitive-flexibility-learning-neurons-23143/
https://theconversation.com/cognitive-flexibility-is-essential-to-navigating-a-changing-world-new-research-in-mice-shows-how-your-brain-learns-new-rules-204259