Cell Census Network (BICCN): Über 3.000 Zelltypen im menschlichen Gehirn aktiv

Wissenschaftliches Mammutprojekt stellt anhand von 21 Studien neuen Hirnatlas vor

Das menschliche Gehirn stellt für die Forschung nach wie vor ein großes Rätsel dar. Die Entschlüsselung der genetischen Diversität der rund 86 Milliarden Neuronen, die ein menschliches Gehirn formen, ist daher entscheidend, um die molekularen Fundamente unserer kognitiven Fähigkeiten zu verstehen und deren Fehlfunktionen bei neurologischen Erkrankungen zu begreifen. Den Geheimnissen des menschlichen Gehirns will ein großes Forschungsprojekt endgültig auf die Spur kommen und kann jetzt elementare Fortschritte aufweisen.

Das im Jahr 2017 ins Leben gerufene „Cell Census Network“ (BICCN), eine Initiative des „National Institute of Health’s Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies“ (BRAIN) verfolgt das Ziel, Zelltypen und ihre Funktionen im Gehirn von Menschen, nichtmenschlichen Primaten und Nagetieren zu identifizieren, zu kartieren und zu verstehen.

Mehrere Zentren in den Vereinigten Staaten und in Europa untersuchen dazu die zelluläre Zusammensetzung des erwachsenen und sich entwickelnden menschlichen Gehirns auf transkriptioneller, epigenetischer und funktioneller Ebene. Ein so entstandener neuer Gehirnatlas soll dazu beitragen, die Mechanismen der Gehirnentwicklung sowie die Genese neurologischer Erkrankungen tiefgreifender zu erfassen. In den neuen wissenschaftlichen Abhandlungen werden außerdem Zellen wie die Mikroglia beschrieben, die eine Form von Immunzellen im Gehirn darstellen sowie die rätselhaften und bislang wenig erforschten „Splatter“-Neuronen. Letztere sind eine spezielle Neuronen-Art, die in ihrem Aussehen an Farbspritzer erinnern.

Die aktuellen Ergebnisse wurden jetzt in 24 einzelnen Artikeln in „Science“, „Science Advances“ und „Science Translational Medicine“ publiziert.

Internationale Zusammenarbeit: Aktivitäten für den Hirnzellatlas im Projekt BICCN gebündelt

So führte ein Forschungsteam unter der Leitung von Kimberly Siletti am Karolinska Institut in Stockholm, Schweden, eine Analyse an Gewebeproben von 14 menschlichen Gehirnen durch. Dabei kam eine innovative Methode zum Einsatz, die es ermöglichte, die spezifischen RNA-Sequenzen in den einzelnen Gehirnzellen zu identifizieren. Die RNA (Ribonukleinsäure) spielt eine zentrale Rolle im Prozess der Proteinbiosynthese, indem sie genetische Informationen aus der DNA übermittelt. Aufgrund der zellulären Funktionsvielfalt variieren die RNA-Sequenzen von Zelle zu Zelle. Aus diesen Unterschieden konnten die Wissenschaftler:innen exakt 3.313 unterschiedliche Zelltypen kategorisieren. Insgesamt basiert die Studie auf einer beeindruckenden Datensammlung von über drei Millionen Gehirnzellen.

In zwei weiteren Forschungsprojekten haben Teams unter der Leitung von Yang Li von der University of California, USA, und Wei Tian vom Salk Institute for Biological Studies, USA, die epigenetischen Charakteristika einzelner Gehirnzellen analysiert. Epigenetische Mechanismen regulieren die Häufigkeit und Art und Weise, in der bestimmte Gene in einer Zelle aktiviert werden. Sie werden nicht nur durch genetische Faktoren bestimmt, sondern auch durch Umwelteinflüsse, Ernährungsgewohnheiten und den Alterungsprozess beeinflusst.

Jede Zelle im menschlichen Gehirn enthält die gleiche DNA-Sequenz, aber in verschiedenen Zelltypen werden unterschiedliche Gene auf RNA-Stränge kopiert, um sie als Protein-Baupläne zu verwenden. Diese ultimative Variation, welche Proteine ​​in welchen Zellen – und in welchen Mengen – vorkommen, ermöglicht die enorme Vielfalt der Arten von Gehirnzellen und die Komplexität des Gehirns.

Zu wissen, welche Zellen für ihre Funktion auf welche DNA-Sequenzen angewiesen sind, ist nicht nur für das Verständnis der Funktionsweise des Gehirns von entscheidender Bedeutung, sondern auch dafür, wie Mutationen in der DNA Gehirnstörungen verursachen können und wie diese Störungen behandelt werden können.

Die Erkenntnisse aus diesen drei Forschungsansätzen haben gemeinsam einen umfassenden Hirnzellenatlas hervorgebracht. Dieser katalogisiert die verschiedenen Typen von Gehirnzellen und ordnet sie spezifischen Regionen des Gehirns zu.

„Beginn einer neuen Ära in der Hirnforschung.“

„Wir stehen tatsächlich am Anfang einer neuen Ära in der Hirnforschung, die uns tiefergehende Einblicke in die Entwicklung, Alterung und Krankheitsanfälligkeit des Gehirns ermöglicht“, erläutert Joseph Ecker vom Salk Institute, der an mehreren dieser Studien beteiligt war.

Das BICCN eröffnet neue Möglichkeiten zur Erforschung des menschlichen Gehirns, unter anderem im Vergleich zu den Gehirnen von Affen. So hat beispielsweise ein Team unter der Leitung von Nikolas Jorstad vom Allen Institute for Brain Science in Seattle Gewebeproben einer Hirnregion untersucht, die beim Menschen mit Gesichtserkennung und Lesen in Verbindung steht. Dabei untersuchten sie Gewebeproben von Erwachsenen sowie von Schimpansen, Gorillas, Rhesusaffen und Weißbüschelaffen.

„Es zeigte sich, dass nur eine geringe Anzahl von Genen menschenspezifische Muster aufweist, was darauf schließen lässt, dass die Unterschiede in der Struktur der Hirnrinde bei erwachsenen Menschen durch vergleichsweise wenige zelluläre und molekulare Veränderungen definiert sind“, resümieren Jorstad und sein Team ihre Forschungsergebnisse.

Alzheimer, Schizophrenie, Depressionen: Grundlagenforschung für innovative Therapieansätze

Allerdings streben die Wissenschaftler auch konkrete Anwendungen in der Medizin an: „Indem wir die diversen Zelltypen im Gehirn kartieren und ihre Interaktionen verstehen, schaffen wir die Grundlage, um innovative Therapieansätze zu entwickeln. Diese könnten gezielt auf spezifische Zelltypen ausgerichtet sein, die bei bestimmten Erkrankungen eine Rolle spielen“, erläutert Bing Ren von der University of California.

Ren ist leitender Autor der Studie, die von Li und seinem Team durchgeführt wurde. Den Forschenden gelang es, molekularbiologische Charakteristika von 107 unterschiedlichen Subtypen von Gehirnzellen herzustellen und diese mit einem breiten Spektrum an neuropsychiatrischen Störungen in Verbindung zu setzen. Zu diesen Erkrankungen zählen unter anderem Schizophrenie, bipolare Störung, Alzheimer-Krankheit und schwere Depression.

Andere Forschungsarbeiten des Teams fokussierten auf die Entwicklungsphasen des menschlichen Gehirns, beginnend mit dem frühen embryonalen Stadium. Im Rahmen dieser Forschung erlangte das Team um Sten Linnarsson vom Karolinska Institut in Schweden auch neue Einsichten in Bezug auf das Glioblastom, einem der aggressivsten bekannten Hirntumoren. Die Forschenden fanden heraus, dass die Zellen dieses Tumors unreifen Stammzellen ähneln, die versuchen, ein Gehirn zu bilden – allerdings in einer völlig chaotischen und unorganisierten Art und Weise.

Dank modernster Technologien: Einen Meilenstein in den Neurowissenschaften geschaffen

Die vom BICCN präsentierten Forschungsergebnisse demonstrieren eindrucksvoll, wie der großangelegte Einsatz modernster Technologien zur Entschlüsselung der komplexen Strukturen des menschlichen Gehirns sowie der Gehirne unserer nächsten Verwandten im Tierreich beitragen kann.

Die so gewonnenen,  umfangreichen Daten werden es Wissenschaftler:innen in aller Welt ermöglichen, sich einer breiten Palette von Forschungsfragen zu widmen und markieren bereits jetzt einen Meilenstein in der Welt der Neurowissenschaften. Um zu verstehen, was uns als Menschen ausmacht und welche Mechanismen neurologische Störungen hervorrufen, ist es unabdingbar, ein tiefgreifendes Verständnis des menschlichen Gehirns auf zellulärer Ebene zu erlangen. Genau dieses Wissen strebt die umfassende Sammlung von Arbeiten des BICCN an, heißt es in einer Einführung zu den Studien in Science.

Alle 24 Artikel zu den 21 Einzelstudien, die am 12. und 13. Oktober 2023 erschienen sind, sind frei zugänglich.

Quellen:

https://www.science.org/collections/brain-cell-census
https://www.science.org/doi/10.1126/science.adl0913
https://www.science.org/doi/10.1126/science.add7046
https://www.salk.edu/de/Pressemitteilung/Eine-neue-%C3%84ra-in-der-Gehirnforschung.-Salk-Forscher-enth%C3%BCllen-den-Atlas-menschlicher-Gehirnzellen