Neue Studien zu Long-COVID: Einblicke in die komplexen Gehirnreaktionen

Von indirekten Entzündungsreaktionen bis zu langfristigen Hirnverletzungen: Wie COVID-19 das Gehirn beeinflussen kann

In der jüngsten Zeit haben zwei wegweisende Studien ein neues Licht auf die langfristigen Auswirkungen von COVID-19 auf das Gehirn geworfen, was unser Verständnis von Long-COVID und dessen Behandlung deutlich erweitern könnte.

Eine soeben in „Nature Neuroscience“ publizierte Studie, durchgeführt von der Berliner Charité, legt nahe, dass neurologische Symptome bei COVID-19-Patienten eher durch eine Entzündungsreaktion im gesamten Körper als durch eine direkte Infektion des Gehirns verursacht werden. Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das Virus indirekte, aber signifikante Auswirkungen auf das Gehirn haben kann, was zu Funktionsstörungen führt.

Eine zweite Studie der Universität Liverpool hebt hervor, dass Long-COVID-Symptome, einschließlich des oft berichteten „Brain Fog“, möglicherweise die Folge von virusbedingten Hirnverletzungen sind, die zu langanhaltenden kognitiven und psychischen Gesundheitsproblemen führen können. Beide Studien untermauern die physische Realität der Long-COVID-Beschwerden und fordern eine Neubewertung der Behandlungsansätze, die sowohl die psychischen als auch die neurologischen Auswirkungen der Krankheit berücksichtigen.

Charité-Studie: Neurologische Symptome bei COVID-19 nicht direkt durch Virus im Gehirn bedingt

Die genaue Ursache neurologischer Symptome bei COVID-19, wie Kopfschmerzen, Gedächtnisprobleme oder extreme Erschöpfung, bleibt bislang ein Rätsel. Neueste Forschungen der Charité in Berlin deuten jedoch darauf hin, dass diese eher auf eine Körperentzündung als auf eine direkte Infektion des Gehirns durch SARS-CoV-2 zurückzuführen sind, wie in „Nature Neuroscience“ berichtet. Frühere Annahmen einer direkten Gehirninfektion konnten nicht bestätigt werden, erklärt Dr. Helena Radbruch vom Institut für Neuropathologie. Vielmehr unterstützt die Studie die Theorie, dass neurologische Beschwerden durch eine starke Immunabwehr des Körpers gegen das Virus verursacht werden, gestützt durch detaillierte Ergebnisse aus Autopsien.

Studie zeigt: Entzündungsreaktionen im Körper beeinflussen Gehirnfunktion

Die Studie der Charité analysierte Gehirnproben von 21 an COVID-19 Verstorbenen und fand keine direkten Anzeichen einer Virusinfektion im Gehirn. Im Gegensatz zu anderen Körperteilen, wo SARS-CoV-2 nachgewiesen wurde, scheinen Immunzellen das Virus in das Gehirn zu transportieren, ohne Nervenzellen direkt zu infizieren. Trotzdem reagierte das Gehirn auf die Entzündung im Körper, insbesondere durch Aktivierung des Interferon-Signalwegs in einigen Zellen, was neurologische Symptome wie Fatigue erklären könnte. Diese Reaktion, besonders im Vagusnerv des Hirnstamms, deutet darauf hin, dass Entzündungsreaktionen im Körper indirekt die Gehirnfunktion beeinträchtigen können, ohne dass eine direkte Infektion des Gehirngewebes vorliegt.

Studie findet zeitlich begrenzte Gehirnreaktion und möglichen Link zu Long COVID

Die Charité-Studie zeigt auf, dass die Gehirnreaktion auf COVID-19-Entzündungen zeitlich begrenzt ist, basierend auf Vergleichen zwischen Personen, die während der akuten Phase und solchen, die Wochen nach der Infektion verstarben. Während der akuten Phase sind molekulare Veränderungen am stärksten, kehren aber in den meisten Fällen zur Normalität zurück. Dies deutet darauf hin, dass anhaltende Entzündungen bei einigen Personen zu langfristigen neurologischen Symptomen führen könnten, was die Forschenden als mögliche Ursache für Long-COVID-Symptome betrachten. Zur weiteren Untersuchung planen sie, die molekularen Signaturen im Hirnwasser von Long-COVID-Patienten detaillierter zu analysieren.

Long-COVID möglicherweise als Hirnschaden identifiziert, der das Gehirn um 20 Jahre altern lässt

Einen anderen Ansatz verfolgt eine jüngst veröffentliche Studie der Universität Liverpool: Dortige Forscher glauben nun, dass diese Symptome auf eine virusbedingte Hirnverletzung zurückzuführen sein könnten, die langfristige kognitive und psychische Probleme verursacht.

In ihrer Studie mit 351 schwer erkrankten COVID-19-Patienten zeigten sich ein Jahr später Anzeichen langfristiger Hirnschäden durch kognitive Tests, Gehirnscans und Biomarker-Analysen. Die Hirndefizite der Patienten glichen einer 20-jährigen Alterung des Gehirns und waren mit psychischen Erkrankungen wie Depression und Angstzuständen verbunden. Die Forschungsergebnisse untermauern die Sorge, dass COVID-19 dauerhafte Schäden am Gehirn verursachen kann, wobei die Patienten globale kognitive Defizite und neuroanatomische Veränderungen des Gehirns aufweisen, so Studienleiter Benedict Michael von der University of Liverpool.

Liverpooler Studie bestätigt: Long-COVID-Symptome sind keine Einbildung

Die Studie zeigt, dass kognitive Defizite bei Long-COVID-Patienten real sind, auch wenn unklar bleibt, ob die Hirnschäden langfristig bestehen bleiben. Dr. Karla L. Thompson von der in die Arbeit eingebundene University of North Carolina betont die Bedeutung der Forschung für Patienten, deren Beschwerden von vielen Ärzten nach wie vor ignoriert wurden. Die Nutzung von Biomarkern liefert jedoch einen objektiven Beweis für die Beeinträchtigung des Gehirns und hilft so, die physische Realität der Erkrankung zu bestätigen.

Fast 80 Prozent der Betroffenen finden keine adäquate medizinische Hilfe

Viele Long-COVID-Patienten haben Schwierigkeiten, Ärzte von der Ernsthaftigkeit ihrer körperlichen Beschwerden zu überzeugen. Bis zu 79 Prozent der Betroffenen berichteten von negativen Erfahrungen bei der Suche nach einer Behandlung. Die genaue Ursache der Hirnschäden ist ungewiss, aber Sauerstoffmangel und Entzündungsreaktionen durch eine verstärkte Immunantwort könnten eine Rolle spielen. Die neuen Erkenntnisse weisen auf neuroprotektive Effekte von Steroiden hin, um Entzündungen im Gehirn zu reduzieren.

James C. Jackson von der Vanderbilt University betont daher die Notwendigkeit, Long-COVID als mögliche Hirnverletzung ernst zu nehmen und entsprechende Behandlungen anzubieten, wie z.B. Therapien zur Verbesserung der Sprach-, Kognitions- und Motorik-Funktionen sowie psychische Unterstützung.

Behandlungsansätze für Long-COVID-Beschwerden als Hirnverletzungen

Die Anerkennung von Long-COVID-Symptomen als Hirnverletzungen könnten neue Wege öffnen, um Patienten zu helfen, zur Normalität zurückzukehren. Laut Dr. Jackson zeigen Biomarker und Gehirnscan-Unterschiede klare Zusammenhänge mit den täglichen Herausforderungen der Betroffenen, wie Schwierigkeiten bei Multitasking, Gedächtnis, Fristeinhaltung und Konzentration. Die Bedenken, dass COVID-19-induzierte Gehirnalterung langfristige Folgen haben könnte, unterstreichen die Dringlichkeit, die Auswirkungen des Virus ernst zu nehmen, insbesondere hinsichtlich des potenziellen frühen Ausbruchs von Demenz und Alzheimer bei Risikopatienten, so die Studien-Autoren.

Diese Studie hebt auch die Rolle der Neuroinflammation bei Alzheimer hervor und deutet darauf hin, dass anhaltende Entzündungen bei Long-COVID einen ähnlichen Effekt haben könnten. Trotz konkreter Beweise für Virus-bedingte Gehirnschäden bei schweren COVID-19-Fällen bleiben Fragen bezüglich der Auswirkungen auf Patienten mit milderen Verläufen und der Langzeitfolgen der Hirnschäden ungelöst.

Dr. Ziyad Al-Aly weist auf die Notwendigkeit hin, diese Mechanismen besser zu verstehen, die dem Virus den Zugang und die Verursachung von Schäden im Gehirn ermöglichen. Die Forschung müsse nun klären, ob entzündungshemmende oder antivirale Medikamente sowie Steroide die Schäden verhindern oder mildern können. Angesichts der anhaltenden Präsenz von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung ist es entscheidend, Strategien zu entwickeln, um langfristige oder dauerhafte Gehirnschäden durch das Virus zu stoppen.

Ein umfassendes Verständnis der Long-COVID-Komplexität

Die jüngsten Studien der Berliner Charité und der University of Liverpool liefern wichtige Einsichten in die neurologischen Auswirkungen von COVID-19 und beleuchten die vielschichtige Natur von Long-COVID. Während die Charité-Studie nahelegt, dass die neurologischen Symptome eher durch systemische Entzündungsreaktionen als durch eine direkte Infektion des Gehirns verursacht werden, weist die Forschung aus Liverpool auf langanhaltende kognitive und psychische Gesundheitsprobleme hin, die als Folge von virusbedingten Hirnverletzungen interpretiert werden könnten.

Conclusio: Scheinbare Diskrepanzen kein Widerspruch, sondern zwei Aspekte einer Krankheit

Diese scheinbaren Diskrepanzen unterstreichen jedoch nicht einen Widerspruch, sondern vielmehr die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen COVID-19, dem menschlichen Immunsystem und dem Gehirn. Sie zeigen auf, dass Long-COVID durch eine Kombination aus direkten und indirekten Effekten des Virus und der Körperreaktion darauf charakterisiert werden kann. Die Charité-Studie betont die Rolle der Immunreaktion und die potenziellen indirekten Auswirkungen auf das Gehirn, während die Liverpooler Forschung die langfristigen Konsequenzen dieser Interaktionen, möglicherweise verstärkt durch Sauerstoffmangel oder Entzündungsreaktionen, hervorhebt.

Diese Erkenntnisse fordern eine ganzheitliche Betrachtung von Long-COVID, die sowohl die psychischen als auch die neurologischen Dimensionen der Erkrankung berücksichtigt. Sie betonen die Notwendigkeit weiterer Forschung, um die genauen Mechanismen zu verstehen, die zu den beobachteten Effekten führen, und um effektive Behandlungsstrategien zu entwickeln, die den Betroffenen helfen, ihre Lebensqualität wiederzuerlangen. Die Arbeit beider Forschungsteams liefert einen wertvollen Beitrag zum wachsenden Verständnis von Long-COVID und zeichnet ein Bild einer Erkrankung, die durch die Interaktion zahlreicher Faktoren geprägt ist.

Quellen zur Studie der Charité:

https://www.nature.com/articles/s41593-024-01573-y
https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/wie_sich_covid_19_auf_das_gehirn_auswirkt

Quellen zur Studie der Universität Liverpool:

https://www.nature.com/articles/s41467-023-42320-4
https://www.medscape.com/viewarticle/new-evidence-suggests-long-covid-could-be-brain-injury-2024a10002v0