Nicht nur Demenz und Alzheimer: Neurologische Erkrankungen nehmen stark zu

In The Lancet publizierte Studie zeigt dramatische Steigerung neurologischer Krankheiten weltweit

Herz- und Kreislauferkrankungen sind nicht mehr die Nummer 1 der weltweit häufigsten Krankheiten. Abgelöst wurde diese nun, wie bereits prognostiziert worden war, von Erkrankungen des Nervensystems. Über 3,4 Milliarden Menschen weltweit sind von neurologischen Störungen betroffen, was 43 Prozent der globalen Bevölkerung entspricht. Dies ist das Kernergebnis der jüngsten Veröffentlichung aus der Studienreihe „Global Burden of Disease“ des US-Instituts für Gesundheitsmesswerte und Evaluierung (IHME) für das Jahr 2021.

Laut dieser Untersuchung sind Schlaganfälle, zerebrale Schäden bei Neugeborenen, Migräne, Demenz und diabetische Neuropathie die Hauptursachen für die weltweite Belastung durch neurologische Erkrankungen. Veröffentlicht im renommierten Fachmagazin „The Lancet Neurology“, wurde die Studie unter der Leitung von Jaimie Steinmetz von der University of Washington in Seattle durchgeführt.

Seit 1990 ist die Anzahl der Fälle von Erkrankungen des Nervensystems weltweit um 59 Prozent angestiegen, wie Steinmetz in einer Veröffentlichung des Fachjournals berichtet. Die Gruppe internationaler Autoren hat wissenschaftliche Untersuchungen ausgewertet, die im Zeitraum von Januar 1980 bis Oktober 2023 auf diesem Gebiet veröffentlicht wurden. Zudem untersuchten sie die Entwicklungen spezifischer neurologischer Krankheiten im Zeitraum von 1990 bis 2021.

Steigende Belastung durch neurologische Erkrankungen: Verlorene Lebensjahre nehmen zu

Die Studie befasste sich mit den Auswirkungen von 37 verschiedenen neurologischen Erkrankungen auf die Gesundheit der Menschen, einschließlich der Häufigkeit von Behinderungen und Todesfällen. Eine zentrale Methode der „Global Burden of Disease“-Studien basiert auf dem DALY-Konzept, wobei DALY für „disability-adjusted life years“ steht, also für „verlorene gesunde Lebensjahre“. Dieses Konzept berücksichtigt sowohl die Lebenszeit, die durch Krankheit in Behinderung oder Einschränkung verbracht wird, als auch die durch Krankheit verursachten vorzeitigen Todesfälle, im Vergleich zu einem hypothetischen gesunden Leben bis zum durchschnittlich erwarteten Lebensalter. Laut der aktuellen Studie ist die Zahl der DALYs von 375 Millionen im Jahr 1990 auf 443 Millionen im Jahr 2021 angestiegen.

Schlaganfälle führten zu den gravierendsten Folgen, indem sie gemäß der Studie der Menschheit 160 Millionen gesunde Lebensjahre entzogen. Auf den folgenden Rängen waren Erkrankungen wie neonatale Enzephalopathie, Migräne, Demenz, durch Diabetes verursachte Nervenschäden, Hirnhautentzündung und Epilepsie. Wahrnehmungsstörungen, ausgelöst durch COVID-19, belegten Platz 20.

Ungleich verteilte Last: Neurologische Krankheiten treffen ärmere Länder härter

Die Studie zeigt ebenfalls auf, dass die Belastung durch neurologische Krankheiten weltweit sehr ungleich verteilt ist, mit den geringsten Belastungen in einkommensstarken Ländern des Asien-Pazifik-Raums wie Japan und Südkorea, sowie in Australien und Neuseeland, und den größten in West- und Zentralafrika. Der globale Durchschnitt beläuft sich auf 5637,6 DALYs und 139 Todesfälle pro Jahr pro 100.000 Einwohner. Deutschland hat mit 3299,4 DALYs und 71,7 Todesfällen pro Jahr pro 100.000 Einwohner eine geringere Belastung, was wahrscheinlich auf die bessere medizinische Versorgung zurückzuführen ist.

Neurologische Krankheitslasten belasten insbesondere die ärmsten Länder übermäßig, was unter anderem auf die hohe Anzahl an Krankheitsfällen bei Neugeborenen und Kindern unter fünf Jahren zurückgeführt werden kann“, erklärt Tarun Dua von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Mitautorin der Studie. Ein beachtlicher Anteil der erstmals untersuchten Krankheiten betrifft vor allem Kinder, die rund 18 Prozent der neurologischen Erkrankungsfälle weltweit ausmachen. Zu den schwerwiegendsten Erkrankungen zählen Hirnschädigungen bei Neugeborenen, Meningitis und Schädigungen des Neuralrohrs.

Schließlich hebt die Studie hervor, dass durch die Adressierung und Beseitigung der Hauptursachen – insbesondere hohen Blutdrucks und Luftverschmutzung – ein signifikanter Anteil der neurologischen Erkrankungen, speziell Schlaganfälle, potenziell vermeidbar wäre. Mit bis zu 84 Prozent der DALYs, die so gesenkt werden könnten, beziffern die Autoren die mögliche Reduktion der Krankheitsfälle durch diese Belastungen.

Risikofaktoren minimieren: Ein Weg, um neurologische Erkrankungen zu reduzieren

Neurologische Krankheiten bringen großes Leid für Betroffene und ihre Familien mit sich und entziehen Gemeinschaften sowie Volkswirtschaften wertvolles Humankapital“, äußerte sich WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus zu den Ergebnissen in einer Pressemitteilung. „Diese Studie muss als dringlicher Weckruf verstanden werden, um gezielte Interventionen zu intensivieren. Damit soll sichergestellt werden, dass die steigende Zahl von Menschen mit neurologischen Erkrankungen Zugang zu der qualitativ hochwertigen Versorgung, Behandlung und Rehabilitation bekommt, die sie benötigen.“

Für die Mehrheit der 37 untersuchten Krankheiten existiert keine Heilung, was die Bedeutung der Prävention und der Erforschung neuartiger Interventionen unterstreicht, so die Autoren. Ein verbessertes Verständnis der spezifischen Auswirkungen einzelner Krankheiten auf das Nervensystem soll als Fundament für gezielte Handlungen und politische Maßnahmen dienen, die zur Verbesserung der neurologischen Gesundheit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene beitragen können.

Quelle:

https://www.thelancet.com/journals/laneur/article/PIIS1474-4422(24)00038-3/fulltext