Nicht-invasive Hirnstimulations-Verfahren: Zunehmend essenziell für die Gesundheitsversorgung

Neues Fraunhofer-Whitepaper: Handlungsempfehlungen für Entwicklung und Implementierung der „Non-Invasive Brain Stimulation“-Therapien (NIBS) erarbeitet

Technische Therapie-Lösungen für die Gesundheit der EU-Bürger:innen – Wissenschaftler:innen fordern den Einsatz nicht-invasiver Hirnstimulationsmethoden: In einem Whitepaper hat das „Center for Responsible Research and Innovation (CeRRi)“ des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Zusammenarbeit mit der Universität Göttingen und internationalen Partnern Richtlinien für die Entwicklung und Einführung der „Non-Invasive Brain Stimulation (NIBS)“ ausgearbeitet. In ihrem Leitfaden präsentieren sie „eine gemeinsame Vision des Einsatzes von NIBS als wünschenswerte Zukunft in der EU“ 1.

Die Zahlen sind bekannt: Gemäß Prognosen könnte die Anzahl der Patient:innen mit neurodegenerativen Erkrankungen, allen voran Alzheimer und Demenz, in Deutschland bis ins Jahr 2050 auf über drei Millionen ansteigen. In ganz Europa rechnet man dann mit ca. 18,8 Millionen Betroffenen und weltweit mit rund 153 Millionen Menschen, die an einer Demenz erkrankt sein werden – gegenüber 57 Millionen im Jahr 2019, so die viel zitierte Studie, die in „The Lancet Public Health“ veröffentlicht wurde 2.

Hinzu kommt ein starker Anstieg psychischer Erkrankungen. Aktuell sind in Deutschland etwa 27,8 Prozent der Erwachsenen, also rund 17,8 Millionen Menschen, von einer psychischen Erkrankung betroffen (DGPPN Januar 2023). Die Corona-Pandemie hat die Situation nochmals deutlich verschärft: Weltweit erhöhte sich etwa die Anzahl der Depressionen im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie um rund 25 Prozent, was fast 280 Millionen betroffenen Personen entspricht 3.

Angesichts dieser Entwicklungen stehen Medizin, Gesundheitssysteme und Politik vor großen versorgungsstrukturellen Herausforderungen und der dringenden Notwendigkeit der Erweiterung therapeutischer Möglichkeiten. Nicht-invasive Methoden der Hirnstimulation, kurz als NIBS bezeichnet, die durch elektrische, magnetische oder andere Formen von physikalischen Energien die Aktivität des Gehirns modulieren, können künftig, so formulieren immer mehr Wissenschaftler:innen und Institutionen, eine maßgebliche Rolle in der Therapie von psychischen und neurologischen Beschwerden spielen.

„Von entscheidender Bedeutung“ für eine gesündere Zukunft: Technische Therapie-Lösungen

Dazu hat das „Center for Responsible Research and Innovation (CeRRi)“ des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO hat in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Göttingen und internationalen Partnern Richtlinien für die Entwicklung und Einführung der „Non-Invasive Brain Stimulation (NIBS)“ zusammengefasst und in einem „White Paper“ ihre „Empfehlungen für nicht-invasive Hirnstimulation in der Europäischen Union“ publiziert 1.

Das Gremium, bestehend aus Expert:innen aus den Bereichen Neurowissenschaften, Medizin, Recht, Ethik, Innovationsmanagement, Philosophie und Psychologie, spricht sich in Anbetracht der aktuellen und der zu erwartenden Erkrankungszahlen eindringlich für den vermehrten und für alle Patient:innen zugänglichen Einsatz der verschiedenen Hirnstimulations-Verfahren aus.

NIBS, so steht im partizipativ entwickelten Whitepaper formuliert, helfen dabei, eine Verbesserung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens der allgemeinen Bevölkerung herzustellen, sie sind in der Lage, zu einer Verbesserung der personalisierten und ambulanten Behandlung beitzutragen und schließlich die exorbitant steigenden Kosten im Gesundheitswesen der meisten EU-Staaten besser kontrollieren zu können.

Whitepaper: Nutzen nicht-invasiver Hirnstimulations-Methoden könnte eine „Revolutionierung“ der Behandlungslandschaft herbeiführen

Jüngste Entwicklungen zeigten, so das Gremium, dass sich die NIBS als zunehmend vielversprechende und innovative Therapien erweisen. Hierbei zitieren sie als Beispiele die transkranielle Magnetstimulation (TMS) und die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), die ihr Potential zur Verbesserung der Symptome verschiedener Erkrankungen, darunter Depressionen, Ängste und Schizophrenie, bereits unter Beweis gestellt hätten.

Diese und andere NIBS-Methoden müssten daher intensiv in Bezug auf die ihnen zugrunde liegenden  Mechanismen, potenziellen Vorteile und Risiken erforscht werden, wobei Wirksamkeit und Sicherheit an erste Stelle zu setzen seien.

Aufklärung, Zugänglichkeit zu Therapien sowie engere Zusammenarbeit zwischen Forschung und Industrie gefordert

In einem 6-Punkte-Plan fassen die Autor:innen ihre Empfehlungen zusammen und richten sich dabei gleichermaßen an politische Entscheidungsträger, Gesundheitsbehörden, Gesundheitsdienstleister, Industrie und Forschung. Dabei zeigen sie deutlich auf, dass eine umfassende Reform im Gesundheitswesen nötig sein wird, die technische Lösungen im Bereich der Therapie durchgängig implementiert.

Zusammengefasst empfiehlt der Fraunhofer-Leitfaden für die gesamte Europäische Union:

  1. Politische Entscheidungsträger: Einrichtung eines leitenden Gremiums auf EU-Ebene für Neurowissenschaften und Neurotechnologie, einschließlich der NIBS; Gewährleistung des gleichberechtigten Zugangs der Patient:innen zu sicheren und wirksamen NIBS; Einbindung aller relevanten Interessensgruppen in die öffentliche Diskussion über medizinische, ethische, soziale, rechtliche und politische Aspekte der NIBS; Gewährleistung des Datenschutzes durch Einführung eines Datenmanagements und speziellen Datenschutzes (Neurorechte).
  2. Gesundheitsbehörden: Verpflichtung der Gesundheitsbehörden, die breite Öffentlichkeit über die neuesten Entwicklungen der NIBS-Technologien umfassend zu informieren; Unterstützung des in Punkt 1 genannten Gremiums auf EU-Ebene; Sicherstellung von Qualitätsstandards für NIBS; Unterstützung der Entwicklung neuer, vielversprechender NIBS.
  3. Gesundheitsdienstleister: Einbeziehung aller relevanten Interessensgruppen sowie Angehörige und Vertreter:innen aller Gesundheitsberufe in Behandlungsentscheidungen und Prozesse; Verbesserung des Behandlungsumfelds und der Ausstattung; Ärzt:innen, die mit NIBS-Technologien arbeiten, sollen eine zusätzliche Zertifizierung erhalten.
  4. Industrie: Entwicklung weiterer NIBS für den Hausgebrauch zu medizinischen Zwecken, um diese neuen Technologie allen Menschen zugänglich zu machen; Bereitstellung einer sicheren Datenerfassung im häuslichen Bereich.
  5. Forschung und Industrie: Die Forschung soll ermutigt und unterstützt werden, die NIBS-Technologien intensiv zu erforschen; dies sollte zu individualisierten Therapiemöglichkeiten, der Bestimmung von Biomarkern zur Therapieüberwachung sowie zu stärker individualisierten, präzisionsgestützten Behandlungen führen.
  6. Agenturen für Forschungsförderung: Verstärkte Finanzierung der Forschung zu Wirksamkeit, zu Biomarkern und möglicher Heimanwendung; die Möglichkeiten des Austauschs zwischen Industrie und Wissenschaft sollen intensiviert werden; Open-Access-Zugänge für Forschung und Wissenschaft sollen zur Verfügung gestellt werden und Anreize für private Organisationen, also die Medien, geschaffen werden, damit diese über Neurotechnologien berichten.

Damit trägt das Whitepaper, das unter anderem vom Deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und finanziert wurde, der Forderung zahlreicher Verbände, Institutionen, Wissenschaftler:innen, der medizintechnischen Industrie, Mediziner:innen und nicht zuletzt schon heute mit NIBS-Technologien behandelten Patient:innen und deren Angehörigen Rechnung:

Die bereits zur Verfügung stehenden Therapieoptionen zur nicht-invasiven Neurostimulation sollen und können die dringend benötigte Zeitenwende in Neurologie und Psychiatrie ermöglichen. Die NIBS neben den etablierten pharmazeutischen Behandlungswegen umfassend und für die Patient:innen allgemein zugänglich zu machen, ist ein wichtiger und notwendiger Schritt zu einer umfassenden und für alle Menschen zugänglichen Gesundheitsversorgung, die den heutigen und künftigen Anforderungen gewachsen ist.

Das Whitepaper »STIMCODE. Participative developed recommendations for non-invasive brain stimulation in the European Union« kann unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden:

https://publica.fraunhofer.de/entities/publication/c305e42c-4c07-497c-8860-460ccb5e0a7c/details

Quellen:

1 Maier, M. J., Antal, A., Oliviero, A., Breuer, J., Ramasawmy, P., Baeken, C., Hölzle, K., Paulus, W., Rozynska, J., Ryan, D., Salardi, S., Tankisi, H., Vidalis, T., Zilio, F., & Northoff, G. (2023). STIMCODE Participative entwickelte Empfehlungen für nicht-invasive Hirnstimulation in der Europäischen Union. Fraunhofer-Publica. https://dx.doi.org/10.24406/publica-1569

2 https://www.thelancet.com/journals/lanpub/article/PIIS2468-2667(21)00249-8/fulltext

3 World Health Organization (2022). COVID-19 pandemic triggers 25% increase in prevalence of anxiety and depression worldwide. Verfügbar unter www.who.int/news/item/02-03-2022-covid-19-pandemic-triggers-25-increase-in-prevalence-of-anxiety-and-depression-worldwide.