Verborgene Strukturen im Schaltplan des Gehirns

Forschende entdecken Ordnung in vermeintlich zufälligen Verbindungen zwischen Nervenzellen.

Unsere Wahrnehmung entsteht im Gehirn durch ein komplexes Zusammenspiel von Nervenzellen, die über Synapsen miteinander verbunden sind. Dabei können die Anzahl und Stärke der Verbindungen zwischen bestimmten Neuronen-Typen variieren.

Wissenschaftler:innen des Universitätsklinikums Bonn (UKB), der Universitätsmedizin Mainz, der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und einem Forschungsteam vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt haben im Rahmen des von der DFG geförderten Schwerpunktprogramms „Computational Connectomics“ (SPP2041) entdeckt, dass die Struktur der vermeintlich unregelmäßigen neuronalen Verbindungsstärken eine verborgene Ordnung beinhaltet. Diese Ordnung ist für die Stabilität des neuronalen Netzwerks unerlässlich. Die Ergebnisse dieser Studie wurden kürzlich im Fachmagazin „PNAS“ veröffentlicht.

Bereits vor 10 Jahren als Meilenstein in der Wissenschaft bezeichnet: Die Konnektomik.

Die Konnektomik, also das Erstellen einer Karte der Verbindungen zwischen den rund 86 Milliarden Nervenzellen im Gehirn, wurde vor zehn Jahren als zukünftiger Meilenstein in der Wissenschaft bezeichnet. In komplexen neuronalen Netzwerken sind die Neuronen durch Tausende von Synapsen miteinander verbunden. Die Verbindungsstärke zwischen den Neuronen ist entscheidend, da sie für das Lernen und die kognitive Leistung verantwortlich ist.

„Jede Synapse ist einzigartig und ihre Stärke kann im Laufe der Zeit variieren. Selbst in Experimenten, bei denen derselbe Synapsen-Typ in derselben Hirnregion untersucht wurde, zeigten sich unterschiedliche Werte für die synaptische Stärke. Diese experimentell beobachtete Variabilität erschwert die Identifizierung allgemeiner Prinzipien, die der stabilen Funktion neuronaler Netzwerke zugrunde liegen“, erklärt Prof. Dr. Tatjana Tchumatchenko, Leiterin einer Forschungsgruppe am Institut für Experimentelle Epileptologie und Kognitionsforschung des UKB sowie am Institut für Physiologische Chemie der Universitätsmedizin Mainz, die Motivation für die Durchführung der Studie.

Dank Zusammenspiel von Mathematik und Labor zielführende Kombinationen nutzen.

Der primäre visuelle Kortex (V1) nimmt visuelle Reize auf, die vom Auge über den Thalamus – eine Schaltstelle für Sinneseindrücke im Zwischenhirn – weitergeleitet werden. Im Rahmen der Studie untersuchten die Forschenden die dabei aktiven Verbindungen zwischen den Neuronen. Sie maßen experimentell die gemeinsame Antwort von zwei Neuronenklassen auf verschiedene visuelle Reize im Mausmodell und nutzten gleichzeitig mathematische Modelle, um die Stärke synaptischer Verbindungen vorherzusagen.

Zur Erklärung der im Labor aufgezeichneten Aktivitäten dieser Netzwerkverbindungen im primären visuellen Kortex verwendeten sie das sogenannte „Stabilisierte Supralineare Netzwerk“ (SSN). „Es handelt sich um eines der wenigen nichtlinearen mathematischen Modelle, das die einzigartige Möglichkeit bietet, theoretisch simulierte Aktivität mit der tatsächlich beobachteten zu vergleichen“, erklärt Prof. Dr. Laura Busse, Leiterin einer Forschungsgruppe an der Neurobiologie des LMU. „Wir konnten zeigen, dass die Kombination von SSN mit experimentellen Aufzeichnungen visueller Reaktionen im Thalamus und Kortex der Maus es ermöglicht, verschiedene Sätze von Verbindungsstärken zu bestimmen, die zu den aufgezeichneten visuellen Reaktionen im visuellen Kortex führen.“

Reihenfolge zwischen den Verbindungsstärken als Schlüsselmodul.

Die Forschenden entdeckten, dass hinter der beobachteten Variabilität der Synapsenstärke eine bisher verborgene Ordnung steckt. Beispielsweise waren die Verbindungen von erregenden zu hemmenden Neuronen stets am stärksten, während die umgekehrten Verbindungen im visuellen Kortex schwächer waren. Obwohl die absoluten Werte der synaptischen Stärken in der Modellierung variierten – ähnlich wie in früheren experimentellen Studien –, behielten sie dennoch stets eine bestimmte Reihenfolge bei. Die relativen Verhältnisse sind also für den Verlauf und die Stärke der gemessenen Aktivität entscheidend, nicht die absoluten Werte.

„Es ist bemerkenswert, dass die Analyse früherer direkter Messungen der synaptischen Verbindungen dieselbe Reihenfolge der synaptischen Stärken ergab wie unsere Modellvorhersage, die allein auf gemessenen neuronalen Antworten basiert“, sagt Dr. Simon Renner von der Neurobiologie der LMU. Seine experimentellen Aufzeichnungen der kortikalen und thalamischen Aktivität ermöglichten die Charakterisierung der Verbindungen zwischen den kortikalen Neuronen.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die neuronale Aktivität viele Informationen über die zugrunde liegende Struktur neuronaler Netzwerke enthält, die sich aus direkten Messungen der Synapsenstärken nicht unmittelbar erschließen. Damit eröffnet unsere Methode eine vielversprechende Perspektive für die Untersuchung von Netzwerkstrukturen, die experimentell nur schwer zugänglich sind“, erklärt Dr. Nataliya Kraynyukova vom Institut für Experimentelle Epileptologie und Kognitionsforschung des UKB sowie Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Die Studie ist das Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen den Laboren von Prof. Busse und Prof. Tchumatchenko, die eng zusammenarbeiteten und dabei auf das rechnerische und experimentelle Fachwissen ihrer Labore zurückgriffen.

Entscheidende Rolle für Stabilität und Funktion neuronaler Netzwerke.

Aus diesen Erkenntnissen lässt sich schlussfolgern, dass trotz der beobachteten Variabilität in der Stärke von Synapsen im Gehirn eine verborgene Ordnung existiert. Diese Ordnung spielt eine entscheidende Rolle für die Stabilität und Funktion von neuronalen Netzwerken. Die Entdeckung, dass die relativen Verhältnisse der synaptischen Stärken wichtiger sind als die absoluten Werte, bietet eine neue Perspektive für das Verständnis der neuronalen Aktivität und der zugrunde liegenden Netzwerkstrukturen.

Die Kombination von experimentellen Methoden und mathematischen Modellen, wie in dieser Studie angewendet, ermöglicht es, die Struktur und Funktion neuronaler Netzwerke besser zu erforschen und möglicherweise schwer zugängliche Netzwerkstrukturen zu untersuchen. Diese Ergebnisse könnten langfristig zu verbesserten Methoden für die Erforschung und Behandlung von neurologischen Erkrankungen beitragen, die mit Störungen in neuronalen Netzwerken in Verbindung stehen.

Auch zeigt die Studie das Potenzial und den Nutzen der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Forschungsbereichen, wie in diesem Falle der Neurobiologie, der Epileptologie, der Kognitionsforschung und der Mathematik, um komplexe wissenschaftliche Fragestellungen im Bereich der Neurowissenschaften zu beantworten.

Quelle:

Nataliya Kraynyukova*, Simon Renner*, Gregory Born, Yannik Bauer, Martin Spacek, Georgi Tushev, Laura Busse**, and Tatjana Tchumatchenko** [* shared first author; ** shared senior author]: In vivo extracellular recordings of thalamic and cortical visual responses reveal V1 connectivity rules; PNAS; 2022