Long-COVID: Neue Studie gibt Einblicke in grundlegende Mechanismen

SARS-CoV-2-Spike-Protein: Anhäufung in der Schädel-Hirnhäute-Hirn-Achse

Die Prävalenz von Long-COVID ist schwierig zu erfassen. Nach aktuellen Einschätzungen sind etwa zehn Prozent der Infizierten  von den Spätfolgen einer Corona-Infektion betroffen. Das entspricht ungefähr 65 Millionen Menschen weltweit. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind die häufigsten Symptome nach einer Corona-Infektion krankhafte Erschöpfung, Kurzatmigkeit und Atembeschwerden, Probleme mit dem Gedächtnis und der Konzentration sowie Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Auch Depressionen und Angstzustände werden häufig beobachtet. Die Neurologie nimmt im Langzeitverlauf also einen großen Stellenwert ein.

Detaillierte neuropsychologische Untersuchungen von Long-COVID-Patient:innen zeigten, dass sich Defizite insbesondere in den Bereichen Aufmerksamkeit, sprachliches Gedächtnis und kognitive Kontrolle feststellen lassen. Erste Verlaufsstudien weisen darauf hin, dass kognitive Beeinträchtigungen länger anhalten als andere Symptome nach einer Corona-Infektion. Zudem scheint der Schweregrad der Akuterkrankung mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten und die Progression kognitiver Störungen verbunden zu sein.

Long-Covid-Studie: Die Rolle des Spike-Proteins im Gehirn

Rund 60 Prozent aller Menschen, die an COVID erkrankt waren, haben möglicherweise immer noch virale Spitzen in ihren Köpfen, so Prof. Ali Ertürk von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) und Direktor des Helmholtz-Instituts für Tissue Engineering und Regenerative Medizin in München in einem ersten Kommentar zu seiner neuen Studie, die die Mechanismen der Long-Covid-Erkrankung untersucht.

Spike-Protein und Veränderungen im Gehirn

Das Team um Prof. Ertürk untersuchte das Vorhandensein und die Verteilung des SARS-CoV-2-Spike-Proteins in der Schädel-Hirnhäute-Hirn-Achse unter Verwendung von Mausmodellen und menschlichem postmortalem Gewebe.  Die Studie zeigt die Anhäufung des Spike-Proteins im Schädelmark, in den Hirnhäuten und im Hirnparenchym, was zu Veränderungen im Gehirn beitragen und die mit COVID-19 verbundenen neurologischen Symptome erklären kann. Die Injektion des Spike-Proteins allein verursachte den Zelltod im Gehirn, was eine direkte Wirkung auf das Hirngewebe hervorhebt.

Die soeben vorveröffentlichte Arbeit berichtet über das Vorhandensein von Spike-Protein im Schädel verstorbener Personen lange nach ihrer COVID-19-Infektion, was darauf hindeutet, dass die Persistenz des Spikes zu langfristigen neurologischen Symptomen beitragen kann. Darüber hinaus identifiziert die Studie differentiell regulierte Signalwege, die mit dem Spike-Protein assoziiert sind, einschließlich neutrophiler Signalwege und Dysregulation der Proteine, die am PI3K-AKT beteiligt sind sowie Komplement- und Gerinnungswege.

Neue Studie zeigt: Spike-Protein zirkuliert auch 15 Monate nach Infekt in Organen

Die Wissenschaftler:innen haben nun neue Erkenntnisse gewonnen, die möglicherweise zu den neurologischen Komplikationen führen, denn: Die Bestandteile des Virus hinterlassen im Körper Spuren. Selbst lange Zeit nach einer überstandenen Corona-Infektion können die äußeren Stacheln der Virenoberfläche, die sogenannten Spike-Proteine, im Organismus nachgewiesen werden. Insbesondere sammeln sich Spike-Moleküle in großen Mengen in einer sehr empfindlichen Körperregion, nämlich im Bereich zwischen dem Schädelknochen, den Hirnhäuten und dem Gehirngewebe – der sogenannten Schädel-Hirnhaut-Gehirn-Achse.

Das Forschungsteam um Ali Ertürk entdeckte Hinweise darauf, dass das äußere Spike-Protein nach einer akuten Infektion für mindestens 15 Monate im Körper verweilt oder sich in verschiedenen Organen ablagert, ohne dass das Virus sich weiterhin aktiv vermehrt. Die Wissenschaftler:innen aus München untersuchten sowohl Mäuse als auch menschliches Gewebe von Covid-19-Betroffenen hinsichtlich der Präsenz des Corona-Spike-Proteins. Dabei konnten sie die Virusstacheln nicht nur in diversen Geweben nachweisen, sondern auch erforschen, wie diese die molekularen Prozesse in den betroffenen Zellen beeinflussen.

Die Forschenden verwendeten unter anderem die „Optical Tissue Clearing“-Methode. Diese moderne Technik ermöglicht es, fixierte Organe und sogar ganze Organismen – in diesem Fall Mäuse – optisch transparent zu gestalten, um gesuchte Zielmoleküle sichtbar zu machen.

Nachdem die Wissenschaftler:innen mit Leuchtfarbstoff markierte Spike-Moleküle in die Blutbahn der Mäuse injiziert hatten, wurden diese in den meisten Organen gefunden: im Herz, in der Lunge, der Leber, den Nieren, dem Darm, der Thymusdrüse, Milz, Bauchspeicheldrüse, Hoden, Eierstöcken und im Gehirn der Tiere.

Vor allem betroffen: Das Gehirn und die Hirnhäute

Eine besonders hohe Konzentration an Spike-Protein wurde im Kopf der Tiere festgestellt, insbesondere im Grenzbereich zwischen dem Schädelknochen, dem schützenden Bindegewebe, das das Gehirn umgibt – den Hirnhäuten – und dem Gehirn selbst. Die Forscher:innen entdeckten die Virusstacheln vor allem in den winzigen Kanälen, die das Knochenmark des Schädelknochens mit den Hirnhäuten verbinden. Solche Nischen im Knochenmark dienen generell als Reservoir für Immunzellen. Im Bereich des Schädels können Abwehrzellen aus dem Knochenmark über diese Kanäle in die Hirnhäute gelangen.

In den Schädeln von Männern und Frauen, die nachweislich an Covid-19 verstorben waren, entdeckte das Münchner Team das Spike-Protein ebenfalls  in allen untersuchten Gewebeproben des Schädels und der Hirnhäute. Interessanterweise trat das Virusprotein auch dort auf, wo die Forscher:innen keine Anzeichen für eine aktive Virusvermehrung mehr feststellen konnten. Lediglich die Hälfte der Probenmaterialien ergab ein positives PCR-Ergebnis.

Bei den Mäusen sowie beim menschlichen Probenmaterial führte die Anwesenheit des Spike-Proteins offenbar zu Veränderungen in zellulären Signalprozessen: Einige Immunreaktionen waren aktiviert, andere fehlreguliert und Gerinnungsprozesse beeinträchtigt. Das Spike-Protein allein kann die Immunabwehr aktivieren, etwa indem es eine Gruppe von Fresszellen, die sogenannten Neutrophilen, übermäßig in Alarmbereitschaft versetzt.

In den Gehirnen der Versuchsmäuse hatten die durch das Spike-Protein ausgelöste Prozesse direkte Konsequenzen: Vier Wochen nachdem die Wissenschaftler:innen den Tieren das Spike-Protein über die Blutbahn verabreicht hatten, entdeckten sie Anzeichen für geschädigte und abgestorbene Nervenzellen im Gehirn der Tiere.

Forschung geht weiter: Suche nach einzelnen Zielmolekülen für Diagnostik und Therapie

Die Wissenschaftler:innen aus München wollen jetzt gezielt nach einzelnen bedeutenden Zielmolekülen suchen, die im Zusammenhang mit dem Krankheitsgeschehen von Long-COVID von Bedeutung sind. Im Gehirn aktivieren die Virusstacheln verschiedene Signalwege, die das Forschungsteam weiter untersuchen möchte, um daraus im besten Fall Biomarker für eine verbesserte Diagnostik und Therapie neurologischer Komplikationen ableiten zu können.

Quelle:
https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2023.04.04.535604v1