Seltene Variante des Reelin-Gens entdeckt

Genvariante könnte ein weiterer Schlüssel zum Verständnis von Alzheimer sein

Ein einziger Patient kann mitunter bahnbrechende neue Antworten zum Verständnis einer Krankheit liefern. Sollten dann weitere Fälle gleicher Art identifiziert werden, können Forschende möglicherweise Verbindungen zwischen diesen Fällen herstellen und neue Hypothesen hinsichtlich Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten aufstellen.

So geschehen jetzt im Falle einer speziellen Gen-Variante, die Wissenschaftler:innen im Gehirn eines verstorbenen Alzheimer-Patienten aus Kolumbien fanden: In einer aktuellen Veröffentlichung in Nature Medicine berichtet ein internationales Forschungsteam, angeführt von Wissenschaftler:innen aus zwei Krankenhäusern  – dem Massachusetts General Hospital (MGH) und dem „Mass Eye and Ear“ – über einen bemerkenswerten Fall. Es handelt sich um einen Patienten mit genetischer Prädisposition für die Entwicklung von frühem Alzheimer, der jedoch bis in seine späten Sechziger Jahre kognitiv unbeeinträchtigt blieb. Im Alter von 72 Jahren entwickelte er eine leichte Demenz und starb im Alter von 74 Jahren – also Jahrzehnte später, als es bei den meisten Menschen mit der Paisa-Mutation normalerweise der Fall ist.

Durch klinische Untersuchungen unter der Leitung von Wissenschaftler:innen der Universität von Antioquia in Kolumbien, Abteilung für genetische und molekulare Studien, die am „Mass Eye and Ear“ und dem Children’s Hospital Los Angeles durchgeführt wurden sowie Neuroimaging- und Biomarker-Studien, die von Forschenden des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf durchgeführt wurden, konnte das Team eine neue genetische Variante identifizieren, die einen Schutz vor der Alzheimer-Krankheit zu bieten scheint.

Gehäufte Alzheimer-Erkrankungen in frühen Jahren in bestimmten Gebieten Kolumbiens

In den teilweise isolierten Bergdörfern des nordwestlichen Kolumbiens tritt Alzheimer in einer frühen Lebens-Phase auf – eine Erscheinung, die nirgendwo sonst auf der Welt so konzentriert beobachtet wird. In diesen Gemeinschaften am Fuße der Anden tragen viele Menschen eine bestimmte Genmutation namens „Paisa“ in sich (Presenilin-1 E280A). Diese Menschen stammen alle von baskischen Einwanderern ab, die vor über 250 Jahren in das Land kamen und die Mutation mit sich brachten. Wenn beide Eltern diese Mutation aufweisen, wird auch ihr Kind davon betroffen sein. Ist nur ein Elternteil Träger der Mutation, so beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind sie erbt, 50 Prozent.

Obwohl Alzheimer normalerweise meist erst in fortgeschrittenem Alter auftritt, manifestieren sich bei jenen Menschen, die Träger der sogenannten Paisa-Mutation sind, bereits im Durchschnittsalter von 44 Jahren Symptome der Krankheit. In der Regel sterben sie bereits etwa im Alter von 60 Jahren an den Auswirkungen der Demenz.

All dieses Wissen ist Francisco Lopero zu verdanken. Der renommierte Neurologe, selbst aus der Paisa-Region stammend, beschäftigt sich seit 30 Jahren intensiv mit der Thematik. Bereits 2019 berichtete er über eine Frau, die Trägerin der Mutation war, jedoch bis zu ihrem 70. Lebensjahr keine Anzeichen von Demenz aufwies. Ein bemerkenswerter Ausnahmefall.

Die jetzt entdeckte Variante befindet sich in einem anderen Gen als dem im Jahr 2019 berichtete Fall, stammt jedoch aus derselben Familie und deutet auf einen gemeinsamen Krankheitsprozess hin. Darüber hinaus zeigen die gewonnenen Erkenntnisse eine bestimmte Region des Gehirns auf, die zukünftig ein Ziel für Behandlungen sein könnte.

Widerstandsfähigkeit und Schutz vor Symptomen der Alzheimer-Krankheit

„Die von uns identifizierte genetische Variante weist auf einen Weg hin, der zu extremer Widerstandsfähigkeit und Schutz vor den Symptomen der Alzheimer-Krankheit führen kann“, so Co-Hauptautor Joseph F. Arboleda-Velasquez, MD, PhD, ein assoziierter Wissenschaftler bei „Mass Eye and Ear“.

„Außergewöhnliche Fälle wie dieser veranschaulichen, wie Einzelpersonen und Großfamilien mit Alzheimer-Krankheit dazu beitragen können, unser Verständnis der Krankheit zu verbessern und neue Wege zum Verständnis der Krankheit zu eröffnen“, sagte Co-Seniorautor Yakeel T. Quiroz, PhD, ein klinischer Neuropsychologe und Neuroimaging-Forscher und Direktor des Familiären Demenz-Neuroimaging-Labors in den Abteilungen für Psychiatrie und Neurologie am Massachusetts General Hospital: „Die Erkenntnisse, die wir aus diesem zweiten Fall gewinnen, können uns dabei helfen, an welchen Stellen im Gehirn wir suchen müssen, um das Fortschreiten der Krankheit zu verzögern und zu stoppen, und kann uns dabei helfen, neue Hypothesen über die Abfolge von Mechanismen aufzustellen, die tatsächlich zur Alzheimer-Demenz führen können.“

Interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht Identifikation wichtiger Puzzle-Teile

Der männliche Patient war in die Biomarker-Studie „Mass General Colombia-Boston“ (COLBOS) aufgenommen worden, die Mitglieder einer erweiterten Familiengruppe von rund 6.000 Personen mit der bekannten Paisa-Mutation für fortgeschrittene Neuroimaging-, Biomarker- und genetische Untersuchungen in Boston einschließt.

In derselben Studie war zuvor ein Fall entdeckt worden, in dem eine Patientin zwei Kopien einer seltenen Genvariante namens Christchurch trug, die das APOE3-Protein betrifft – ein Protein, das stark mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung steht. Die Forscher konnten jedoch die Präsenz der APOE Christchurch-Genvariante bei dem männlichen Patienten ausschließen.

In Zusammenarbeit mit Xiaowu Gai, Ph.D., wurden am „Mass Eye and Ear“ und mit Kollegen vom Children’s Hospital Los Angeles genetische und molekulare Analysen durchgeführt, um andere Varianten zu identifizieren, die den Patienten vor Alzheimer hätten schützen können. Die vielversprechendste Kandidatin war eine neue und seltene Variante des Reelin-Gens, über die zuvor noch nie berichtet worden war.

Das Team nannte sie Reelin-COLBOS. In Studien unter der Leitung von Co-Seniorautor Diego Sepulveda-Falla, MD, einem leitenden Forscher am Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, bestätigte das Team die schützende Rolle der Reelin-COLBOS-Variante weiter durch Untersuchungen an Mausmodellen und neuropathologische Studien.

APOE-Christchurch und Reelin-COLBOS zeigen charakteristische Schutzmuster

„Jeder der geschützten Fälle, der APOE-Christchurch- und der Reelin-COLBOS-Fall, zeigt in den post-mortem-Analysen ein charakteristisches Schutzmuster, eines global und das andere sehr lokalisiert“, so Sepulveda-Falla. „Diese herausragenden Fälle zeigen uns, dass der Schutz vor Alzheimer unterschiedliche Formen annehmen kann und dass möglicherweise eine Therapie erfolgreich sein kann, indem sie einfach auf wichtige Gehirnstrukturen wie den entorhinalen Kortex abzielt. Diese neuen Erkenntnisse zwingen uns, unsere bisherigen Konzepte über Neurodegeneration und kognitiven Verfall zu überdenken. Es sind aufregende Zeiten für uns und hoffentlich auch für die Alzheimer-Forschung.“

Die Forscher bezeichnen Reelin als einen „Cousin“ des bekannteren APOE. Sowohl Reelin als auch APOE konkurrieren darum, an ähnliche zelluläre Rezeptoren zu binden, indem sie praktisch um denselben Platz ringen. Wenn Reelin an den Rezeptor gebunden ist, reduziert es die Phosphorylierung von Tau, einem Protein, das bekanntermaßen in Gehirnen von Alzheimer-Patienten pathologische Verklumpungen bildet. Wenn hingegen APOE an den Rezeptor bindet, bewirkt es das Gegenteil.

Reelin ist ein Protein, das eine zentrale Rolle in der Regulation der Entwicklung und Funktion von Gehirnzellen spielt. Tatsächlich wurden in vorherigen Studien Mutationen in Reelin mit Krankheiten wie Autismus, Schizophrenie, Epilepsie und bipolarer Störung assoziiert. Doch die krankheitsassoziierten Mutationen unterscheiden sich, da sie die Funktion des Proteins beeinträchtigen, während im Fall von Reelin-COLBOS als schützende Variante die Funktion des Proteins sogar zu steigern scheint.

„Als wir sahen, dass Reelin einer unserer Spitzenkandidaten für die Variante war, war das ein bisschen schockierend“, erklärt Arboleda-Velasquez. „Die Tatsache, dass der erste Fall uns eine Variante zeigte, die APOE betrifft, und der zweite Fall Reelin betrifft, zeigt uns, dass dieser Signalweg, der neben anderen Effekten die Phosphorylierung von Tau steuert, der Schlüssel zum Verständnis sein könnte, warum diese Patienten geschützt waren.“

Im Alter von 73 Jahren unterzog sich der jüngste Patient einer Bildgebungsuntersuchung im Massachusetts General Hospital. Diese Scans zeigten, dass der Patient zwar eine hohe Belastung durch Amyloid-Beta-Plaques und Tau-Verwicklungen in einigen Bereichen seines Gehirns aufwies, sein entorhinaler Kortex jedoch eine bemerkenswert begrenzte Tau-Pathologie zeigte.

Der entorhinale Kortex spielt eine entscheidende Rolle bei Gedächtnisprozessen und Lernen, wobei dessen Degeneration bekanntlich zu kognitiven Beeinträchtigungen und Demenz führt. Studien an einem Mausmodell zeigten ebenfalls, dass die Reelin-COLBOS-Variante vor Tau-Pathologie schützte. „Dieser Fall weist darauf hin, dass die entorhinale Region möglicherweise ein winziges Ziel darstellt, das für den Schutz vor Demenz von entscheidender Bedeutung ist“, so Co-Seniorautor Quiroz.

Studie deutet auf neue mögliche Behandlungsstrategien hin.

Viele Behandlungsstrategien für die Alzheimer-Krankheit, darunter jene Medikamente, die kürzlich von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurden, und andere Medikamente, die sich derzeit in klinischen Studien befinden, zielen darauf ab, die Bildung von Amyloid-Plaques zu reduzieren. Die Ergebnisse der Studie deuten wiederum auf mögliche neue Behandlungsmöglichkeiten hin, da die beiden geschützten Patienten extrem hohe Amyloid-Werte im Gehirn aufwiesen und dennoch geschützt waren.

„Diese aufregenden Ergebnisse zeigen die Leistungsfähigkeit der akademischen Zusammenarbeit, bei der ein Experte für die Genetik von Netzhauterkrankungen, der mit einer lokalen Neuroimaging-Behörde zusammenarbeitet, mit führenden Neurologen und Neuropathologen auf der ganzen Welt zusammenarbeiten kann, um wissenschaftliche Entdeckungen voranzutreiben“, fassen Joan W. Miller, MD, Vorsitzende von Ophthalmologie am „Mass Eye and Ear“, „Mass General Hospital“ und Brigham and Women’s Hospital und David Glendenning Cogan, Professor und Lehrstuhlinhaber für Ophthalmologie an der Harvard Medical School, zusammen: „Die Alzheimer-Krankheit bleibt eine verheerende Krankheit mit einer immensen globalen Belastung, und diese Arbeit öffnet die Tür für weitere Untersuchungen darüber, wie dieser Resilienz-Pfad zu einer wirksamen Therapiestrategie führen könnte.“

Die Forschenden weisen darauf hin, dass sie nicht völlig ausschließen können, dass auch andere Faktoren, einschließlich zusätzlicher Genvarianten, zur Widerstandsfähigkeit des Patienten gegenüber den Symptomen der Alzheimer-Krankheit beigetragen haben könnten. Ihre experimentellen Beweise in präklinischen Studien deuten jedoch stark auf die Reelin-COLBOS-Variante hin.

Quelle:

https://www.nature.com/articles/s41591-023-02318-3