Antipsychotika gegen Demenz: Mehr Schäden und Risiken als bisher angenommen

Englische Studie warnt vor massiven Nebenwirkungen und plädiert für reduzierten Einsatz

Antipsychotika werden regelmäßig zur Behandlung von Verhaltens- und psychologischen Symptomen der Demenz (BPSD) verwendet, die bei vielen Patienten auftreten. Doch schon lange gibt es Bedenken hinsichtlich der Nebenwirkungen der am häufigsten eingesetzten Medikamente dieser Art, insbesondere bei älteren Menschen mit Demenz. Zu den bekannten Risiken gehören eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Stürzen, Herz-Kreislauf-Problemen, venöser Thromboembolie, Schlaganfall, Lungenentzündung, akute Nierenerkrankungen sowie eine erhöhte Sterblichkeit.

In einer neuen Studie, die soeben im British Medical Journal veröffentlicht wurde, untersuchten englische Forscher in einer großen Kohorte die Nebenwirkungen, die mit der Einnahme von Antipsychotika bei Menschen mit Demenz verbunden sind und fordern in der Folge dringend neue regulatorische Entscheidungen über den Einsatz von Antipsychotika zur Behandlung von Demenz.

Rolle der Antipsychotika bei der Behandlung von Demenzerkrankungen

Rund vierzig Prozent aller Pflegeheim-Bewohner in Deutschland, die an Demenz leiden, werden mit Beruhigungsmitteln behandelt, wobei hauptsächlich sedierende Antipsychotika eingesetzt werden. Diese Medikamente, ursprünglich für die Behandlung von Wahnvorstellungen und Halluzinationen entwickelt, werden jedoch auch bei Menschen mit Demenz bei Symptomen wie Agitation, Angst, Reizbarkeit, Aggression, Enthemmung und Schlafstörungen eingesetzt – mit zunehmender Tendenz.

Vor allem Risperidon, Quetiapin und Pipamperon werden häufig und „recht großzügig“ bei Demenz-Patienten verschrieben und oft auch längerfristig als notwendig eingesetzt. Zu diesem Schluss kam bereits vor einiger Zeit die EPYLOGE-Studie der Technischen Universität München und warnte vor „erheblichen Nebenwirkungen wie erhöhter kardiovaskulärer Mortalität, Parkinsonsymptomen, Bewegungsstörungen, niedrigem Blutdruck, Orthostase-Problemen und Stürzen.“

Kohorten-Studie zeigt, dass Nebenwirkungen der Antipsychotika höher sind als angenommen

In Großbritannien ist die Situation ähnlich, wobei dort nur Risperidon und Haloperidol zur Behandlung Demenz-Kranker eingesetzt werden dürfen. Eine große Kohorten-Studie der Universität Manchester untersuchte Nutzen und Nebenwirkungen der Antipsychotika nun umfangreicher: Die Studie nutzte Daten von über 173.000 Demenz-Patienten, von denen 35.339 Antipsychotika verschrieben wurden, über einen Zeitraum von 10 Jahren. Das Fazit vorweg: Das Spektrum der unerwünschten Folgen war größer als zuvor in den behördlichen Warnungen hervorgehoben.

Alle relevanten Daten wurden aus den elektronischen Gesundheitsakten des Clinical Practice Research Datalink (CPRD) gewonnen, das mehr als 2.000 Allgemeinarztpraxen in Großbritannien umfasst. Der CPRD besteht aus den Datenbanken Aurum und GOLD, die als weitgehend repräsentativ für die britische Bevölkerung gelten. In die Studie einbezogen wurden Personen über 50 Jahre, bei denen eine Demenz-Diagnose gestellt worden war. Ein wichtiger Punkt war, dass keiner der Teilnehmer innerhalb des Jahres vor seiner Diagnose eine antipsychotische Behandlung erhalten hatte.

Die Forscher verwendeten ein abgestimmtes Kohorten-Design, bei dem jeder Patient, der nach seiner ersten Demenzdiagnose Antipsychotika erhielt, einer Gruppe zugeordnet wurde. Dabei wurde die Inzidenzdichte-Stichprobenmethode angewendet, bei der bis zu 15 zufällig ausgewählte Patienten, die am selben Tag eine Demenzdiagnose erhielten, jedoch keine Antipsychotika verschrieben bekamen, als Vergleichsgruppe dienten.

Die durchschnittliche Zeitspanne zwischen der ersten Demenzdiagnose und dem Datum der ersten Verschreibung eines Antipsychotikums betrug 693,8 Tage für Aurum und 576,6 Tage für GOLD. Zu den am häufigsten verschriebenen Antipsychotika zählten Risperidon, Haloperidol, Olanzapin und Quetiapin.

Erhöhtes Risiko für verschiedene Folge-Erkrankungen

Die aktuelle bevölkerungsbasierte Studie kam zu dem Ergebnis, dass Erwachsene mit Demenz, denen Antipsychotika verschrieben wurden, ein erhöhtes Risiko für venöse Thromboembolien, Myokardinfarkte, Schlaganfälle, Herzversagen, Lungenentzündungen, Knochenbrüche und akute Nierenschäden im Vergleich zu Personen ohne Antipsychotika-Einnahme hatten.

Ein besonders erhöhtes Risiko für unerwünschte Ereignisse wurde vor allem zu Beginn der Behandlung bei den Konsumenten von Antipsychotika festgestellt. Nach einer 90-tägigen Einnahme von Antipsychotika war das Risiko für venöse Thromboembolien, Lungenentzündung, akute Nierenschäden und Schlaganfälle deutlich höher als bei Personen, die keine Antipsychotika einnahmen. Im Vergleich zur Nichtanwendung war etwa das Risiko für venöse Thromboembolien um das 1,5-fache, für Lungenentzündungen bis zum 2-fachen erhöht. Jedoch schienen die Antipsychotika keinen Einfluss auf das Risiko für ventrikuläre Arrhythmien, Blinddarmentzündungen und Cholezystitis zu haben.

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Einsatz von Antipsychotika in den ersten sechs Monaten der Behandlung zu einem zusätzlichen Fall von Lungenentzündung pro neun behandelten Patienten und einem zusätzlichen Herzinfarkt pro 167 behandelten Patienten führen könnte. Wenn die Behandlung über zwei Jahre andauert, könnte es zu einem zusätzlichen Fall von Lungenentzündung pro 15 behandelten Patienten und einem zusätzlichen Herzinfarkt pro 254 behandelten Patienten kommen.

Studienautoren: „Antipsychotische Behandlungen müssen besser abgewogen werden.“

Zusammenfassend stellen die Studienautoren fest, dass der Einsatz von Antipsychotika bei Menschen mit Demenz ein erheblich größeres Spektrum an Schäden mit sich bringt als bisher untersucht. Jeder potenzielle Nutzen einer antipsychotischen Behandlung müsse daher gegen das Risiko schwerwiegender Schäden bei mehreren Endpunkten abgewogen werden:

Der Einsatz von Antipsychotika ist bei Menschen mit Demenz mit einer Vielzahl schwerwiegender unerwünschter Folgen verbunden, wobei bei einigen Folgen ein relativ großes absolutes Schadensrisiko besteht. Diese Risiken sollten bei zukünftigen regulatorischen Entscheidungen neben zerebrovaskulären Ereignissen und Mortalität berücksichtigt werden. Jeder potenzielle Nutzen einer antipsychotischen Behandlung muss gegen das Risiko schwerwiegender Schäden abgewogen werden, und die Behandlungspläne sollten regelmäßig überprüft werden. Die Wirkung von Antipsychotika auf Verhaltens- und psychologische Symptome einer Demenz ist bestenfalls bescheiden, aber der Anteil der Menschen mit Demenz, denen Antipsychotika verschrieben werden, ist in den letzten Jahren gestiegen. Unsere Feststellung, dass Antipsychotika mit einem größeren Spektrum an Risiken verbunden sind als bisher bekannt, ist daher von direkter Relevanz für Leitlinienentwickler, Aufsichtsbehörden und Kliniker, die die Angemessenheit der Verschreibung von Antipsychotika bei Verhaltens- und psychologischen Symptomen von Demenz prüfen.“

Quellen:

https://www.bmj.com/content/385/bmj-2023-076268
https://www.decide.med.tum.de/palliativ/epyloge-studie/