Alzheimer von mehr Faktoren als nur Amyloid abhängig?

Dänische Forschende hinterfragen Amyloid-Hypothese kritisch

Alzheimer-Demenz und Amyloid werden seit den 1980er Jahren meist in einem Atemzug genannt. Auch wenn zahlreiche Studien zu Antikörpern zur Amyloid-Entfernung in den vergangenen Jahrzehnten scheiterten und ein Skandal um gefälschte Studien vergangenes Jahr 2022  immer wieder zu erheblichen Zweifeln an der sog. „Amyloid-Hypothese“ führten, scheint sie durch die beiden Amyloid-Antikörper Lecanemab und Donanemab doch wieder gefestigter.

Da bei Lecanemab zumindest ein statistischer Nutzen festgestellt wurde und auch bei Donanemab zumindest im Frühstadium der Krankheit klinische Effekte gezeigt werden konnten, war in den vergangenen Monaten von einem „Meilenstein in der Alzheimer-Forschung“ die Rede. Doch auch viel Kritik wurde laut, zumal wegen der teils heftigen und in bislang  drei Fällen sogar tödlichen Nebenwirkungen.

Dänische Forschende hinterfragen Hypothese kritisch und bringen weitere Faktoren ins Spiel.

In Anbetracht einer möglichen bevorstehenden Zulassung beider Medikamente auch in Europa hat sich ein Team um Prof. Kasper P. Kepp von der Abteilung für Chemie der Technischen Universität Dänemark mit den Antikörper-Therapien auseinandergesetzt. In einem kritischen Review stellen die Wissenschaftler:innen fest, dass die Alzheimer-Forschung trotz ihrer hohen Komplexität hauptsächlich auf der Vorstellung beruht, dass Alzheimer eine Art „Systemversagen“ ist, welches zu einer Überlastung des Gehirns mit Beta-Amyloid führt.

Die Amyloid-Hypothese stößt auf Widerstand, da viele Arzneimittel zwar Amyloid entfernen, jedoch kaum oder unklare Auswirkungen auf die Krankheit zeigen – einschließlich Lecanemab. Die Forschenden bemängeln auch die unschlüssigen Begründungen für diese Misserfolge. Zudem gibt es Skepsis, da die klinische Wirkung von Anti-Amyloid-Medikamenten gering und keine Korrelation zwischen Kognition und Amyloid-Ablagerungen erkennbar ist. Außerdem wurden lange Zeit genetische und lebensstilbedingte Risikofaktoren wie Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und Depression vernachlässigt.

Amyloid auch in gesunden Gehirnen vorhanden und Funktion noch nicht bekannt.

Laut Kepp sind genetische Risikofaktoren, die Amyloid mit Alzheimer verbinden (FAD, Presenilin- und APP-Mutationen), für weniger als fünf Prozent  aller Fälle verantwortlich. Bei über 95 Prozent der Patient:innen treten Amyloid-Plaques also ohne genetische Risikofaktoren auf. Viele Mutationen erzeugen sogar weniger Amyloid als die Wildform des Proteins. Zudem ist Amyloid auch in vielen gesunden Gehirnen vorhanden und hat wahrscheinlich eine Funktion wie andere produzierte Proteine, die noch nicht bekannt sind.

Ein weiterer Kritikpunkt der Wissenschaftler:innen ist, dass die Amyloid-Hypothese (ACH) hauptsächlich auf Tierstudien, insbesondere mit Nagern, basiert. Sie merken an, dass die Unterstützung für die ACH hauptsächlich aus transgenen Nager-Modellen stammt, die FAD-Mutanten exprimieren. Allerdings limitieren Unterschiede in menschlichen Alterungsprozessen und neurologischer Entwicklung den Wert der in Mäusen beobachteten pathogenen Prozesse.

Die Skepsis gegenüber der Amyloid-Hypothese wirft die Frage auf, ob die Amyloid-Antikörper Lecanemab und Donanemab nach dem Scheitern ihrer Vorgänger die Alzheimer-Therapie tatsächlich revolutionieren können. Bisherige Antikörper wie Solanezumab und Bapineuzumab haben nicht überzeugend gewirkt und Post-Mortem-Studien zeigen, dass trotz Entfernung der Plaques bei vielen Patient:innen die schwere Demenz dennoch weiter fortgeschritten war.

Kepp sieht den Fokus ausschließlich auf Amyloid-Therapien daher als unzweckmäßig an: „Die neuesten Anti-Amyloid-Antikörper (Donanemab, Lecanemab) zeigen zwar geringe, aber ungewisse Wirkungen und haben Nebenwirkungen, zumal sie kostspielig sind. Sie könnten jedoch Bestandteil eines umfassenderen Behandlungsansatzes sein.“ Für die Alzheimer-Forschung und Behandlung bleiben frühzeitige die Diagnose und die Ursachenforschung entscheidend, wobei auch die „Prävention und Förderung unterschiedlicher Arzneimittelansätze wie Proteostase, Hirnstoffwechsel, Tau-Protein und andere krankheitsrelevante Pfade“ essenziell sind.

Wissenschaftler:innen mahnen zur Vorsicht vor übertriebenen Erwartungen.

Die AutorInnen mahnen deshalb zur Vorsicht vor übertriebenen Hoffnungen in Bezug auf Anti-Amyloid-Therapien als Heilmittel für Alzheimer. Obwohl Amyloid ein Teil der Alzheimer-Pathologie sein könnte, spielt es möglicherweise nur eine untergeordnete Rolle in der Behandlung. Wenn Amyloid jedoch nicht der Hauptverursacher der Demenzsymptome bei Alzheimer ist, stellen sich Fragen nach Alternativen. Infektionen, Gefäßerkrankungen und Stoffwechselstörungen könnten potenzielle Ursachen sein, die weiter erforscht werden müssen. In diesen Szenarien könnte Amyloid eher als ein Marker für einen erhöhten APP-Umsatz dienen, der mehr eine Reaktion auf Beeinträchtigungen als ein Krankheitsfaktor ist.

Viren könnten nicht nur bei Multiple Sklerose, sondern auch bei Alzheimer eine Rolle spielen.

Seit den 1980er Jahren wurde die Hypothese, dass Viren oder Bakterien zur Entstehung von Alzheimer beitragen könnten, immer wieder aufgegriffen. Obwohl diese Idee damals verlacht wurde, gewinnt sie inzwischen wieder an Glaubwürdigkeit. Vergangenes Jahr belegte eine große US-Studie deutlich, dass der weltweit stark verbreitete Epstein-Barr-Virus, kurz EBV genannt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Hauptverursacher für Multiple Sklerose ist. Auch Studien zu Alzheimer haben gezeigt, dass Menschen mit Herpes-simplex-Infektionen ein erhöhtes Alzheimer-Risiko aufweisen. Der Neurologe Davangere Devanand, Neurologe am Columbia University Medical Center hebt im Interview mit dem englischen „Guardian“ eine prägende Studie aus Taiwan aus dem Jahr 2018 hervor, wonach die Behandlung von Herpes-Patienten mit einem Standard-Antiviral das Demenzrisiko um das Neunfache reduzierte.

In einem aktuellen Preprint fanden wiederum Forschende der amerikanischen Stanford University heraus, dass eine Herpes-Zoster-Impfung potenziell vor Demenz schützen könnte. Die Wissenschaftler:innen um Dr. Pascal Geldsetzer nutzten für ihre Studie die Tatsache, dass in Wales die Zulassung zur Herpes-Zoster-Impfung an ein festes Geburtsdatum gebunden ist. Dabei konnten sie zeigen, dass die Impfung die Wahrscheinlichkeit einer neuen Demenzdiagnose über einen Beobachtungszeitraum von sieben Jahren um 3,5 Prozentpunkte reduzierte. Dies könnte einer fast 20-prozentigen Reduzierung des Auftretens von Demenz entsprechen, wobei der Effekt bei Frauen größer als bei Männern war. Die Studie zeigte auch, dass die Impfung keinen Einfluss auf andere häufige Morbiditäts- oder Mortalitätsursachen hatte, was laut Studienautor Dr. Pascal Geldsetzer typische Verzerrungen von Korrelationsanalysen vermeidet.

Alzheimer ist zu komplex, als dass die Krankheit nur mit Amyloid erklärt werden kann.

Diese entmutigenden Ergebnisse im Zusammenhang mit der Amyloid-Theorie und das wiedererwachte Interesse an der Rolle von Virusinfektionen bei der Entstehung von Demenz markieren zwei bemerkenswerte Entwicklungen in der Alzheimer-Forschung. Sie unterstreichen erneut, dass Alzheimer komplexer ist, als nur durch das Amyloid erklärt werden könnte.

Geldsetzer und sein Team fordern randomisierte Studien zur weiteren Untersuchung des Einflusses von Herpes-Zoster-Impfungen und zur Identifizierung eines potenziellen Zeitpunkts für deren Anwendung in der Demenzbehandlung. Auch Prof. Kepp aus Dänemark empfiehlt, sich nicht nur auf die Amyloid-Ansätze zu konzentrieren. Er betont, dass die Hypothese zwar wichtig für die Forschung und Modellentwicklung war, jedoch nur einen geringen Einfluss auf die Patienten hat, insbesondere angesichts der Komplexität der Krankheit.

Quellen:

https://academic.oup.com/brain/advance-article-abstract/doi/10.1093/brain/awad159/7162122

https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2023.05.23.23290253v1