Alzheimer-Medikament Lecanemab in den USA endgültig zugelassen

Wissenschaftler:innen mahnen vor falschen Hoffnungen und hohen Risiken

Vergangene Woche, am 06. Juli 2023, war es so weit: In den USA wurde der Anti-Körper Lecanemab von der FDA endgültig zugelassen und kann dort in Verkehr gebracht werden. Unter dem Handelsnamen „Leqembi“ soll das Medikament, das intravenös und unter strengen Bedingungen verabreicht werden muss, nun offiziell an Alzheimer-Patient:innen abgegeben werden. Ob das umstrittene Medikament, dessen Wirksamkeit als eher marginal eingestuft wird und dabei hohe Risiken in sich birgt, auch in Europa zugelassen werden wird, ist derzeit noch fraglich.

„Meilenstein in der Alzheimer-Forschung“ oder doch den Teufel mit dem Beelzebub austreiben?

Seit Monaten toben gewaltige Diskussionen zur Causa Lecanemab: Während manche Fachleute über den gleichwohl bescheidenen Erfolg jubeln und von „Durchbruch“ und „Hoffnung für Millionen“  sprechen – flankiert von einem entsprechenden Medien-Hype, der die massiven Nebenwirkungen des Präparats meist nur am Rande erwähnt  –  beobachten viele internationale Wissenschaftler:innen und auch europäische Forschende kritisch bzw. gar entsetzt die aktuelle Entwicklung. Denn es stellt sich die Frage: Für wen ist Lecanemab tatsächlich eine Hoffnung – für die Patient:innen oder für die Aktienkurse des Herstellers?

Zur Erinnerung: Lecanemab soll gemäß Studien, wie alle anderen zuvor in Studien allerdings gescheiterten Antikörper die Amyloid-Last reduzieren, also die Protein-Ablagerungen zwischen den Nervenzellen –  und zwar um 27 Prozent  bei Alzheimer-Patient:innen im beginnenden Frühstadium. Allerdings, so etwa der französische Neurologe Nicolas Villain, der an den Studien beteiligt war, seien die Studienergebnisse zwar statistisch signifikant, aber klinisch kaum aussagekräftig. In einem aktuellen Tweet teilt er seine Befürchtungen: „…Hoffen wir nur für die behandelten Patienten, dass es nicht zu zahlreichen Fällen wie diesem kommt…“ und verweist auf eine Untersuchung(1) zu einem der Todesfälle, die auf die Gabe von Lecanemab während der Studien zurückzuführen sind.

Gegen den Einsatz von Lecanemab: Wissenschaftler:innen starten Petition

Während weltweit Forschende gegen die Zulassung in den USA Sturm laufen und Wissenschaftler:innen zudem warnen, sich nicht nur auf die Amyloid-Hypothese zu verlassen (siehe hierzu auch: https://alzheimer-science.com/news/alzheimer-forschung/alzheimer-von-mehr-faktoren-abhaengig ), haben amerikanische Neurolog:innen eine Petition gestartet.

Alberto Espay, Professor für Neurologie an der Universität von Cincinnati, Ohio, USA, ruft Kolleg:innen weltweit auf change.org auf, gegen die FDA-Zulassung zu protestieren. Wir zitieren seinen Petitionstext, der drei Wochen vor der endgültigen Zulassung erschien, nachfolgend:

„Lecanemab ist weder sicher noch wirksam für Alzheimer-Patienten: Gegen die FDA-Zulassung

Lecanemab wurde als sicher und wirksam dargestellt, mit einer „Verlangsamung des kognitiven Abbaus“ um 27 Prozent, was den Patient:innen viel Hoffnung gab. Während sich die FDA darauf vorbereitet, zu entscheiden, ob sie die volle Zulassung für eine breite Anwendung erteilen wird, deuten die verfügbaren Daten darauf hin, dass Lecanemab unwirksam und möglicherweise schädlich ist, so dass sein Einsatz und seine Kosten nicht zu rechtfertigen sind.

Lecanemab verbessert die Situation der Patienten nicht. Mit oder ohne Lecanemab verschlechterte sich der Zustand der Teilnehmer:innen an der klinischen Studie weiter. Auf einer 18-Punkte-Skala verschlechterten sich die mit Lecanemab behandelten Patient:innen um 1,21 Punkte, während sich die Patient:innen unter Placebo um 1,66 Punkte verschlechterten. Diese „Verbesserung“ (0,45 Punkte) ist keine Veränderung, die die Patient:innen oder ihre Angehörigen wahrnehmen könnten (1-2 Punkte). Wenn 100 Wörter ein perfektes Erinnerungsvermögen darstellen und wir uns zu Beginn der Studie an 82 erinnern konnten, konnten wir uns nach 18 Monaten mit zweiwöchentlichen Infusionen an 75 oder 76 erinnern, und ohne 73. Das ist ein absoluter Unterschied von nur 2,5 Prozent.

Lecanemab kann schädlich sein. Bei 13 Prozent der behandelten Patient:innen traten Hirnschwellungen und bei 17 Prozent kleine Blutungen auf. Die langfristigen Folgen dieser Veränderungen sind unbekannt, aber die Größe der Gehirne der mit Lecanemab behandelten Personen nahm deutlich ab. Eine Verringerung der Hirngröße wird in der Regel als Zeichen einer Hirndegeneration angesehen. Außerdem wurden drei Todesfälle mit der Lecanemab-Behandlung in Verbindung gebracht.

Lecanemab ist zu teuer. Der Preis des Medikaments beträgt 26 500 US-Dollar pro Jahr und ist damit um ein Vielfaches höher als der Preis eines herkömmlichen Alzheimer-Medikaments wie Donepezil, dessen Nutzen zwar bescheiden, aber größer als der von Lecanemab ist. Die Behandlung von nur einem Zehntel der 6,7 Millionen Amerikaner, von denen angenommen wird, dass sie an Alzheimer leiden, würde das Medicare-Budget aushöhlen und die Patienten und ihre Familien mit etwa 7.000 US-Dollar an Zuzahlungen pro Jahr belasten, ohne dass es zu einer spürbaren Verbesserung oder gar Verschlechterung käme (Anm. d. Red.: Hinzu kommen Kosten für die nötigen Untersuchungen, insbesondere die Bildgebung, und für die medizinische Betreuung).

Wir empfehlen, die Verwendung von Lecanemab und seine vollständige Zulassung durch die FDA zu stoppen.“

Die Petition wurde bereits von mehreren hundert Wissenschaftler:innen aus den USA, Australien und Europa unterzeichnet.

Sie ist unter folgendem Link zu finden:

https://www.change.org/p/lecanemab-is-neither-safe-nor-effective-for-alzheimer-s-patients-against-the-fda-approval

1 Quelle zum Todesfall, der von Nicolas Villain zitiert wird:

https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2023.04.26.23289061v1