Kognitive Stimulation als unterschätzte Maßnahme bei Demenz-Patienten

Warum nicht-medikamentöse Maßnahmen wie kognitives Training und soziale Teilhabe in der Behandlung von Alzheimer und Demenz an Bedeutung gewinnen sollten

Trotz jahrzehntelanger Forschung gibt es nach wie vor keine spezifischen medikamentösen Therapien für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und andere Formen der Demenz. Andere moderne Ansätze in der Therapie, etwa nicht-invasive Hirnstimulations-Methoden (NIBS), sind noch auf dem Wege in Richtung Etablierung und wenig verfügbar. In der neurologischen und psychiatrischen Praxis sollten daher bzw. ohnehin die Möglichkeiten der Prävention und  die Patienten unterstützende Maßnahmen, darunter etwa kognitives Training, die so wichtige soziale Teilhabe und die Förderung von Alltagskompetenzen, aktiver genutzt werden. Doch oft werden sie viel zu wenig berücksichtigt.

Jetzt zeigt eine neue Metastudie aus Italien eindrucksvoll, wie wirksam diese nicht-pharmakologischen Interventionen sein können, um die kognitiven Funktionen, die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Betroffenen zu verbessern. Diese Erkenntnisse lenken den Blick einmal mehr auf die Bedeutung ganzheitlicher Ansätze, die die Plastizität des Gehirns nachweislich fördern und es ermöglichen, bestehende kognitive Ressourcen besser zu nutzen.

Meta-Studie bietet umfassende Analyse zur Wirksamkeit kognitionsorientierter Behandlungen

Die Metastudie, durchgeführt von einem Forschungsteam des „Italian National Institute of Health“ unter der Leitung von Elisa Fabrizi, Alice Paggetti und Ylenia Druda, bietet eine umfassende Analyse zur Wirksamkeit kognitionsorientierter Behandlungen (Cognition-oriented treatments, COTs) bei Menschen mit Demenz. Diese nicht-pharmakologischen Interventionen umfassen kognitive Stimulation (CS), kognitives Training (CT) und kognitive Rehabilitation (CR). Ziel all dieser Ansätze ist es, die kognitive Leistungsfähigkeit zu unterstützen und vorhandene neuronale Ressourcen zu mobilisieren, um Defizite zu kompensieren.

Kognitive Stimulation erfolgt häufig in Gruppenformaten und umfasst eine Vielzahl von Aktivitäten, die Gedächtnis, Sprache und Problemlösung fördern. Diese Interventionen sind besonders wirkungsvoll, da sie nicht nur die kognitiven Funktionen anregen, sondern auch soziale Interaktionen fördern. Kognitives Training ist hingegen spezifischer und setzt auf Übungen, die bestimmte kognitive Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Exekutivfunktionen gezielt verbessern. Die kognitive Rehabilitation zielt darauf ab, individuelle Alltagskompetenzen zu stärken und den Betroffenen zu helfen, eine gewisse Selbstständigkeit zu bewahren oder zurückzugewinnen.

Nachgewiesene Effekte, die Patienten und Angehörigen zugutekommen

Die Ergebnisse der neuen Meta-Analyse bestätigen, dass kognitive Stimulation und Training die kognitiven Fähigkeiten von Menschen mit Demenz signifikant verbessern können, insbesondere bei Patienten mit leichter Demenz. Auch die kognitive Rehabilitation hat sich als besonders nützlich erwiesen, wenn es darum geht, die funktionalen Fähigkeiten der Patienten zu erhalten, die für den Alltag entscheidend sind. Darüber hinaus zeigt sich, dass solche Interventionen nicht nur den Betroffenen selbst zugutekommen, sondern auch die Belastung pflegender Angehöriger mindern, da sie die Eigenständigkeit und das Wohlbefinden der Betroffenen fördern.

Die Bedeutung sozialer Teilhabe: Ein integraler Bestandteil der Therapie

Ein weiterer wesentlicher Punkt, den die Studie herausstellt, ist die soziale Komponente der kognitiven Interventionen: Soziale Teilhabe ist nicht nur eine Ergänzung, sondern ein entscheidender Faktor, der eng mit der kognitiven Stimulation verbunden ist. Regelmäßige soziale Interaktionen stimulieren das Gehirn auf natürliche Weise und fördern dessen Plastizität. Die Studie zeigt, dass Isolation und Einsamkeit die Progression kognitiver Defizite beschleunigen können, während soziale Kontakte dazu beitragen, das Fortschreiten der Demenz zu verlangsamen und die Lebensqualität zu verbessern.

Neuroplastizität und kognitive Reserve: Die Basis für erfolgreiche Interventionen

Ein zentrales Thema, das von Fabrizi und ihren Kollegen hervorgehoben wird, ist die Neuroplastizität – die Fähigkeit des Gehirns, sich selbst neu zu organisieren und anzupassen. Kognitive Interventionen aktivieren diese Mechanismen, indem sie neuronale Verbindungen stärken und neue Netzwerke fördern.

Dieser Prozess ermöglicht es dem Gehirn, selbst bei Vorliegen neurodegenerativer Prozesse weiterhin funktionelle Anpassungen vorzunehmen. Hier kommt auch das Konzept der kognitiven Reserve ins Spiel, das beschreibt, wie das Gehirn Schädigungen kompensieren kann, um eine gewisse Funktionalität aufrechtzuerhalten. Die Forscher betonen, dass Maßnahmen zur Förderung der Neuroplastizität und kognitiven Reserve eine höchst wichtige Grundlage für eine erfolgreiche, nicht-medikamentöse Demenztherapie bilden.

Kognitive Stimulation und soziale Teilhabe stärker in den Praxis-Mittelpunkt mit einbauen

Auch der Berliner Psychiater Dr. Arnim Quante, Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Friedrich von Bodelschwingh-Klinik und Leiter der Gedächtnisambulanz sowie der gerontopsychiatrischen Institutsambulanz, plädiert seit langem dafür, die Bedeutung kognitiver Stimulation und sozialer Teilhabe bei der Demenzbehandlung stärker in den Fokus zu rücken.

„Kognitives Training und Stimulation bei Demenz sind wirksam!“, betont Dr. Quante. „In meiner täglichen Arbeit in der Gedächtnisambulanz werde ich immer wieder gefragt, was Patienten tun können, um die Progression der Krankheit zu verlangsamen. Neben den bekannten Basismaßnahmen wie Bewegung, gesunde Ernährung und soziale Kontakte ist die kognitive Stimulation ein wichtiger Faktor.“

Dr. Quante hebt hervor, dass die praktische Umsetzung dieser Interventionen leider nicht immer einfach ist: „Viele Patienten und ihre Angehörigen wissen gar nicht, wo sie solche Therapien finden können, zumal solche, die auch von den Kassen bezahlt werden. Ich verschreibe oft Ergotherapie und empfehle, vorher mit den Therapeuten zu sprechen, ob sie diese Form der kognitiven Stimulation überhaupt anbieten.“ Er weist zudem auf digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) hin, die helfen könnten, die kognitiven Fähigkeiten zu fördern, auch wenn sie von älteren Patienten häufig abgelehnt würden, weil sie nicht viel mit Handys anfangen könnten.

Daher setzt er zudem auf einfache Möglichkeiten, die Patienten und deren Angehörige selbst zu Hause in ihren Alltag einbauen können wie etwa lesen, Rätsel lösen oder auch ein Instrument spielen. Die Liste sei lang, so der Psychiater, denn vieles, was den Patienten vor ihrer Erkrankung Spaß gemacht habe, könne auch bei einer Demenz-Erkrankung noch Freude bereiten.

„Leben mit Demenz bedeutet, Teilhabe zu fördern“, fügt Dr. Quante hinzu. „Freude und Zuversicht zu vermitteln ist essenziell, und kognitive Stimulation kann dabei durchaus Spaß machen. Wichtig ist aber zunächst einmal, dass wir Fachärzte Patienten und deren Angehörige zu diesen Möglichkeiten hinführen und sie dabei unterstützen.“ Damit spricht er auch explizit die Hausärzte an, die meist erste Ansprechpartner und Wegbegleiter der Demenz-Patienten sind.

Die Erkenntnisse der italienischen Meta-Studie zeigen also ebenfalls, dass kognitive Stimulation, Training und Rehabilitation, ergänzt durch soziale Teilhabe, weitreichende Vorteile für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen bieten. Weitere Forschungsarbeiten seien freilich notwendig, so die Autoren, um die langfristige Wirksamkeit und die optimalen Bedingungen für diese Interventionen noch präziser zu bewerten. Dazu gehören standardisierte Protokolle, einheitliche Methodologien und eine detailliertere Untersuchung der Mechanismen der Neuroplastizität sowie der kognitiven Reserve.

Mehr Aufmerksamkeit für bewährte Maßnahmen: Was Fachärzte und Hausärzte tun sollten

Doch schon heute ist klar: Diese nicht-pharmakologischen Ansätze sollten stärker genutzt und in die Praxis integriert werden. Die positiven Effekte auf kognitive Funktionen, Alltagsfähigkeiten und das Wohlbefinden sind belegt und können das Leben der Betroffenen und ihrer Familien erheblich verbessern. Indem diese Interventionen vermehrt in Gedächtnisambulanzen und vor allem auch in Hausarztpraxen zur Anwendung kommen, wäre ein wichtiger Schritt getan, um Menschen mit Demenz mehr Lebensqualität und Hoffnung zu schenken.

Die Meta-Studie „The efficacy of cognitive stimulation, cognitive training, and cognitive rehabilitation for people living with dementia: a systematic review and meta-analysis“ wurde am 01. November 2024 in GeroScience veröffentlicht:

https://link.springer.com/article/10.1007/s11357-024-01400-z