Medizinische Stoßwellen: Neue Perspektiven und Behandlungsmöglichkeiten
Wirkmechanismus Mechanotransduktion als Grundlage für vielfältige medizinische Stoßwellenanwendungen
Stoßwellen werden zunehmend in verschiedenen medizinischen Fachbereichen eingesetzt. Die Stoßwelle ist eine Form mechanischer Energie, die durch die Haut in den Körper eindringen kann, ohne die Körperoberfläche zu verletzen, und die gezielt in bestimmten Tiefen des Organismus wirkt. In der Medizin werden Stoßwellen mittels elektrohydraulischer, piezoelektrischer oder elektromagnetischer Verfahren erzeugt und das ihnen zugrunde liegende Wirkprinzip ‚Mechanotransduktion‚ gewinnt zunehmend an Bedeutung, da ihre Mechanismen mittlerweile weitreichend erforscht sind. Vereinfacht gesagt, beschreibt Mechanotransduktion einen Prozess, bei dem mechanische Reize in biochemische Signale umgewandelt werden, was zu zellulären Reaktionen führt.
Ein Beispiel hierfür ist die Transkranielle Pulsstimulation (TPS), die mit niedrigenergetischen Stoßwellen-Pulsen arbeitet. In der Neurologie und Psychiatrie wird die Stoßwellen-Therapie TPS bei Alzheimer-Demenz eingesetzt und in Bezug auf weitere neurodegenerative und neurophysiologische Erkrankungen international umfangreich erforscht. Doch auch in der Kardiologie zeigt nun eine vielbeachtete, aktuelle Studie der Universität Innsbruck, wie Stoßwellen dank dieser Wirkprinzipien eine verbesserte Herzfunktion durch Reaktivierung inaktiver Herzmuskelzellen erreichen können. Die am 20. Juni 2024 im „European Heart Journal“ veröffentlichte Studie wird in Fachkreisen als bahnbrechend angesehen und erregt derzeit internationale Aufmerksamkeit. Denn sie zeigt einmal mehr, welche Möglichkeiten Stoßwellen in der Medizin bieten können.
Stoßwellen ermöglichen Fortschritte in der Behandlung der ischämischen Kardiomyopathie
Viele Jahre forschte ein großes Team der Medizinischen Universität Innsbruck an einer Methode zur Behandlung der ischämischen Kardiomyopathie und bewies dabei großen Durchhaltewillen. Die etwa 1,4 Millionen Betroffenen weltweit, im Durchschnitt 68 Jahre alt, leiden unter Kurzatmigkeit und eingeschränkter körperlicher Leistungsfähigkeit.
Nach einem oder mehreren Herzinfarkten sterben Herzmuskelzellen ab, hinterlassen Narben und führen zum sogenannten ‚hibernating myocardium‘. Hibernating Myocardium bezeichnet einen Zustand, in dem Herzmuskelzellen nach einem Herzinfarkt in einen Ruhemodus verfallen. Diese Zellen bleiben zwar am Leben, stellen jedoch ihre Aktivität ein und fallen in eine Art Winterschlaf. Dies führt zu einer chronischen Unterversorgung des betroffenen Herzmuskelgewebes mit Blut. Die dann erfolgenden Bypass-Operationen können die verbleibende Herzfunktion nur erhalten, jedoch nicht verbessern.
Neue Option in der Herztherapie: Stoßwellen reaktivieren Herzmuskelzellen
Den Wissenschaftlern in Innsbruck ist es gelungen, Herzmuskelzellen mittels Stoßwellentherapie als Ergänzung zur Bypass-Operation zu reaktivieren und die Pumpleistung des Herzens nachhaltig zu verbessern. „Wir wissen, dass jede Verbesserung um fünf Prozentpunkte die Spitalswiederaufnahmen signifikant reduziert und die Lebenserwartung erhöht. Unsere Methode hat eine Verbesserung von fast zwölf Prozentpunkten gezeigt. Das ist spektakulär“, berichtet Projektleiter Johannes Holfeld.
Die Behandlung zeigte in der CAST-HF-Studie mit 65 Patienten beeindruckende Ergebnisse. Eine Gruppe wurde nur mit einer Bypassoperation behandelt, während die zweite Gruppe zusätzlich eine Stoßwellentherapie erhielt. Aufgrund des bemerkenswerten Erfolgs in der zweiten Gruppe gab die Ethikkommission früher als erwartet ihr Einverständnis, um allen Patienten die Stoßwellen-Behandlung rasch zu ermöglichen.
Mittlerweile liegen Langzeitergebnisse der ersten, vor vier Jahren mit Stoßwellen therapierten Patienten vor: „Die Effekte waren deutlicher als erwartet, und wir konnten frühzeitig signifikante Verbesserungen des Herzmuskels nachweisen“, so Holfeld. Die Langzeitergebnisse zeigen, dass der Effekt stabil bleibt und das Herz sich nachhaltig erholt. „Das Herz erholt sich und bleibt dann fit“, bestätigt Klinikdirektor Michael Grimm.
Stoßwellen sind Schalldruckwellen, die Vesikel von der Zelloberfläche abscheren. Diese Vesikel enthalten Substanzen, die den Toll-like-Rezeptor-3 (TLR-3) aktivieren, einen Rezeptor des angeborenen Immunsystems. „Wir konnten nachweisen, dass dieser Rezeptor Effekte auslöst, die dazu führen, dass sich Bindegewebszellen in Gefäßwandzellen umwandeln und neue Blutgefäße bilden. Dadurch sprossen in den chronisch unterversorgten Herzmuskel neue Blutgefäße ein, wodurch dieser wieder aktiv zur Pumpleistung des Herzens beiträgt“, erläutert Holfeld den Mechanismus. Er und sein Team schätzen, dass mehr als ein Drittel aller Patienten mit Herzschwäche, insbesondere jene mit stark eingeschränkter Pumpleistung, künftig von der Stoßwellen-Behandlung profitieren werden.
Stoßwellen: Zunehmend breites Einsatzspektrum in der Medizin
Stoßwellen haben sich in der Medizin in verschiedenen Fachbereichen etabliert. Begonnen hatte dies mit der Lithotripsie in den 1980er Jahren, bei der Nierensteine durch Stoßwellen zertrümmert werden. Das Verfahren wurde bislang millionenfach eingesetzt. In der Orthopädie werden Stoßwellen zur Behandlung von Sehnen- und Muskelverletzungen sowie bei Knochenheilungsstörungen genutzt und die Dermatologie nutzt Stoßwellen zur Verbesserung der Hautstruktur und zur Behandlung von Cellulite und Narben. Diese vielseitigen Anwendungen zeigen das breite Potenzial von Stoßwellen in der medizinischen Therapie.
Dass die Stoßwellen nun nach jahrzehntelanger Erforschung jetzt auch in Neurologie und Psychiatrie mit der Transkraniellen Pulsstimulation (TPS) und in der Kardiologie neue Behandlungsmöglichkeiten bereitstellen und die Wirk- und Funktionsweise der Stoßwellen zunehmend in klinischen Studien nachweisen, gibt Millionen Betroffenen neue Chancen darauf, trotz ihrer Erkrankungen ein besseres Leben zu führen.
Quellen:
Johannes Holfeld et al, Cardiac shockwave therapy in addition to coronary bypass surgery improves myocardial function in ischaemic heart failure: the CAST-HF trial, European Heart Journal, 2024;, ehae341, https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehae341